Jobs in Gefahr |
über das Aussterben der Berufe |
„Angriff auf die Tonstudios“ lautet der Titel eines Artikels in der Frankfurter Rundschau vom 20.August 2014 (hier eine Version von 2019). Da gibt es doch tatsächlich einen neuen Online-Dienst, der für Hobbymusiker das Mastering der im Heimstudio aufgenommenen Songs erledigt. Bisher war dieser Produktionsschritt noch den Profis in teuren Tonstudios vorbehalten – eine Arbeit, die eine Menge Erfahrung sowie technische und vor allem musikalische Fähigkeiten erfordert. Oder erfordert hat. Denn jetzt können das auch Computer.
Das behauptet jedenfalls Justin Evans, einer der Macher bei Mixgenius, dem Anbieter des kostenlosen Services mit dem Namen Landr. Nach seiner Aussage lernt das System mit jedem Song dazu und kann schon bald unzählige Musikstile auseinanderhalten und entsprechend behandeln. Ton-Profis sind dagegen naturgemäß skeptisch. Sie sehen – neben ihren Verdiensten – die Musikalität in Gefahr und betonen den menschlichen Faktor in der Musikproduktion, insbesondere dem Mastering.
Diese Skepsis – von den Verdiensten einmal abgesehen – kann ich nicht nachvollziehen. Ich selbst bin in der Tontechnik tätig, vorwiegend als Live-Mischer (Live-Mastering könnte man meine Tätigkeit auch nennen), und habe schon lange das Gefühl, dass diese Arbeit sich nach sehr starren Algorithmen richtet, also gut von Rechnern übernommen werden könnte. Großes kreatives Potential jedenfalls steckt nicht darin. Und wenn die im-Studio-Masternden behaupten, ihre Arbeit sei kreativer als meine, dann frage ich mal kritisch, wann es denn die letzten für Laien hörbaren kreativen Innovationen auf dem Musikmarkt gegeben hat? War es vielleicht der Cher-Effekt, der die Stimme der Sängerin in ihrem 1998er-Hit Believe in Richtung Computer-Stimme verfremdete und danach unzählige Male von anderen Künstlern kopiert wurde? Ich fürchte ja. Das war im vergangenen Jahrtausend!
Zu behaupten, Maschinen wären nicht in der Lage, exzellente Musik zu mastern, halte ich für kurzsichtig und sehr überheblich, menschenüberheblich. Schon immer haben die Menschen behauptet, dies oder jenes werden Maschinen nie können. Und wie oft hat die technische Entwicklung diesen Kleinglauben überholt?
Die Master-Profis sind natürlich nicht die ersten, deren Jobs wegrationalisiert werden. Wer kennt denn heute noch den Harzer oder den Küfer? Ursachen für das Verschwinden von Berufen sehe ich zwei: den technischen Fortschritt und den bewussten Verzicht auf Service oder Qualität. Laternenanzünder, Köhler und Rohrpostbeamtin sind direkte Opfer des technischen Fortschritts geworden. Tankwart, Kammerzofe und Programmansagerin hat man sich dagegen mehr aus Geldgründen abgewöhnt und verzichtet lieber auf ihren Service. Natürlich gibt es Mischformen, und dazu gehört in meinen Augen z.B. der Schriftsetzer oder der Drucker. Ich bin sicher: als die ersten Computer Texte eigenständig setzten, und als dank Microsofts Word jeder Hinz und Kunz seine Texte ansehnlich setzen und drucken konnte, haben die Schriftsetzer (die Songmaster-Profis von damals) gerufen: „Das können Maschinen nicht! Das werden sie niemals können!“ Und damit hatten sie Recht und Unrecht. Unrecht hatten sie, weil es heute hochprofessionelle Textsatzsysteme gibt, die ihre Arbeit nicht schlechter machen als ihre menschlichen Vorgänger. Recht hatten sie, weil zumindest in manchen Bereichen einfach auf Qualität verzichtet wurde. Welcher Schriftsteller, der heute sein Werk im Eigenverlag als Book On Demand verlegt, aktiviert vorher in Word die Silbentrennung, um den Grauwert der gedruckten Seite zu harmonisieren? Beispiele für Ligaturen:
© coonlight.de Schusterjungen und Hurenkinder mögen so Manchem ja noch bekannt sein, aber wer hat schon mal etwas von Durchschuss, Halbgeviertstrich, Guillemets oder Ligaturen gehört, und wer kann falsche Kapitälchen von echten unterscheiden? Ligaturen z.B. (das Verschmelzen mehrerer Buchstaben zu einem; z.B. fl, fi, ff) waren noch vor 2010 auch für MS-Word noch ein Fremdwort (nachdem sie in Blei bereits seit mehreren hundert Jahren üblich waren). Und darum, dass sie in Webbrowsern möglich und üblich werden, kümmert sich vermutlich überhaupt niemand. Beurteilt ein Textsatz-Profi einen von Word oder Firefox gesetzten Text, so stehen ihm nach meiner Kenntnis die Haare zu Berge. Aber welcher Laie sieht, warum? Niemand hat doch je gemerkt, dass es keine Schriftsetzer mehr gibt!
Und bei Musikprofis wird das nicht anders sein. In zehn Jahren wird es keine Masterer aus Fleisch und Blut mehr geben, und keiner wird es merken. Selbst, wenn das Menschliche aus diesem Produktionsschritt verschwindet, werden wir uns alle daran gewöhnen. An maschinelle Musik haben wir uns doch eh längst gewöhnt, seit man in den frühen 80ern auf einer Bontempi-Heimorgel eine einzelne Taste herunterdrücken konnte und von einer hübschen Hintergrundmusik im Bossa-Nova-Rhythmus überascht wurde. Und beim Mastern wird es nicht bleiben. Ich habe nicht recherchiert, wie viele Kompositions-Programme es bereits gibt. Musik aber, zumindest kommerzielle Musik, geschieht nach festen Regeln, musikalischen, mathematischen, psychoakustischen, die seit dem Cher-Effekt doch kaum einmal übertreten wurden. Und solche Regeln, Algorithmen eben, können Computer eigentlich viel besser anwenden als Menschen. Ein Programm also, das ausgehend von einer gewünschten Grundstimmung passende musikalische Bausteine nach festen Regeln zu neuen Songs kombiniert, ist längst überfällig! Oder längst gängige Praxis?
Technologisch stehen wir heute an einer besonderen Schwelle. Ton- und Bild-Verarbeitung stellt für die heutige Smartphone-Rechenleistung kein Problem mehr dar wie noch zur Jahrtausendwende für teure Stand-PCs. Alles was noch fehlt sind Leute wie Justin Evans von Mixgenius, die über das derzeit denkbare hinausblicken und sich zutrauen, einen Algorithmus für ein Problem zu erarbeiten. Ich glaube, dieser Vorgang wird sich in naher Zukunft extrem beschleunigen und uns alle überrollen. Jobs werden schneller verlorengehen, als wir heute noch denken. Auch als Live-Tonmensch mache ich mir nichts mehr vor. Heute schon kommunizieren handelsübliche digitale Mischpulte und ihre Peripherie auf der Bühne ausschließlich über Netzwerkkabel oder WLAN miteinander. Diese Errungenschaft wird heute von Tontechnikern noch hoch gepriesen, da sie Unmengen an technischem Material sowie Aufbauzeit einspart und somit die armen Techniker-Rücken schont. In zehn Jahren aber werden alle Musikinstrumente und Mikrofone direkt in das Computernetzwerk mit eingebunden werden. Das Mischpult wird die Instrumente selbstständig erkennen, einpegeln, klangregeln und letztlich mit ihnen auch die Show gestalten. Diese Software wird niemals mehr eine Rückkopplung zulassen und niemals vergessen, ein Mikrofon einzuschalten. Und somit wird bald auch der Live-Mischer überflüssig sein. In zehn Jahren. Vielleicht fünfzehn.
Was heute noch als unmöglich gilt, wird morgen realisiert werden. Soviel haben wir aus der Geschichte doch inzwischen gelernt. Auf die vollautomatischen Tontechniker folgen die vollautomatischen Musiker, darauf wiederum die Roboter-Mannschaft, die Bayern München schlagen wird, und etwa zur selben Zeit wird es auch endlich Arzt-Roboter geben, die keine Kunstfehler mehr begehen. Und bis dahin wird vermutlich auch der letzte im Transportwesen Beschäftigte seine Arbeit verloren haben, denn das vollautomatische Auto ist bereits heute Realität. Einen Job wird in absehbarer Zukunft nur noch haben, wer Computertechnik studiert hat. Unsinn? Wer will mir da ernsthaft widersprechen? Wo ist mein Trugschluss? Und wer freut sich auf diese Zeit der Beinahe-Voll-Nicht-Beschäftigung, wie sie am heutigen Tage – wenn auch nicht ganz so radikal – im Wirtschaftsteil der FAZ dargestellt wird?
Und wer denkt darüber überhaupt nach? Politiker haben zumindest 2009 noch von Vollbeschäftigung gesprochen (Steinmeier verspricht Vollbeschäftigung), die OECD noch 2013 (OECD sieht 2014 Vollbeschäftigung in Deutschland). Neueste Technologien und ihre noch unerkannten Möglichkeiten scheinen sie alle aber nicht wahrzunehmen.
PS: Das englischsprachige Video Humans Need Not Apply bietet eine ausführlichere Aufarbeitung des Themas mit vielen spannenden Beispielen und räumt anschaulich auf mit dem viel zitierten Schlagwort „Technologie schafft Arbeitsplätze“.
Angriff auf die Tonstudios, Frankfurter Rundschau, 20.08.2014 (hier vom 16.01.2019) | https://www.fr.de/wirtschaft/angriff-tonstudios-11247225.html |
Landr – der beschriebene Online-Mastering-Dienst | https://www.landr.com/ |
Auto-Tune oder Cher-Effekt bei Wikipedia | https://de.wikipedia.org/wiki/Automatische_Tonh%C3%B6henkorrektur |
Der Song Believe von Cher bei YouTube | https://www.youtube.com/watch?v=nZXRV4MezEw |
Macht der Maschinen, Wirtschaftsteil der FAZ, 21.08.2014 über die aktuelle digitale Revolution | http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/digitale-revolution-macht-der-maschinen-12910372.html |
Humans Need Not Apply, Video bei YouTube in Englisch mit vielen Beispielen bald aussterbender Berufe | https://www.youtube.com/watch?v=7Pq-S557XQU |
Analogkäse, Formfleisch, Muckefuck – ein Surrogat ist ein Ersatz für ein höherwertiges Original. Im Jahre 2054 ersetzen sog. Surrogates als lebensechte, ferngesteuerte Roboter ihre Besitzer im täglichen Leben. Während die Originale im heimischen Wohnzimmer fast ihr ganzes, originales Leben verbringen, geistern ihre Ersatz-Körper für sie durch die Weltgeschichte, gehen zur Arbeit oder tanzen in Nachtclubs. Verbunden über neuronale Netzwerke sehen und hören die Besitzer, was ihre Surrogates sehen und hören, fühlen, was sie fühlen, erleben, was sie erleben.
Grundsätzlich mache ich hier keine Produktwerbung. Und auch jetzt geht es mir nicht um die Marke, sondern um das Prinzip: Der Einhandmischer, bei dem die Mittelstellung kaltes Wasser liefert. Ich selbst habe so einen von der Firma hansgrohe, die den CoolStart auf den Markt gebracht hat. Für mich eine der wichtigsten Erfindungen neuerer Zeit.