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Die Bundestagswahl und der Perfektionismus

Gestern im TV war es wieder soweit: In einer Straßenumfrage sagte jemand auf die Frage, ob er denn bei der anstehenden Bundestagswahl wählen würde: „Nein. Wen soll man denn wählen?“. Jemand anderes ergänzte: „... bei dem Kasperletheater ...“ Nicht dass solche Aussagen neu für mich wären. Im Gegenteil, in meiner Wahrnehmung scheinen sie überhandzunehmen. Immer wieder höre ich von Unentschlossenheit bis zuletzt und einer erklärten Hilflosigkeit, die ich eher aus Zeiten der DDR-Mangelwirtschaft erwartet hätte: „Ja, was soll man denn kaufen? Es ist ja nichts da?“

Auswahl bei Kleiderkauf – Multioptionalität

Das Angebot ist größer denn je: 47 zugelassene Parteien treten in diesem Jahr bundesweit an, davon 40 mit Landeslisten (2013 waren es 30 Parteien mit Landeslisten, 2002 noch 24). Eigentlich sollte inzwischen für jeden und jede etwas dabei sein. Und doch – oder deshalb? – scheint es vielen Wahlberechtigten nicht möglich, ein einfaches Kreuz zu machen. Ist es der Terror der „Multioptionalität“? So nennt ein Freund von mir gern den Zustand, wenn ein Überangebot die Entscheidungsfindung blockiert. Oder ist es das Gefühl, nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können?

Ich vermute, es ist eher das Pest-und-Cholera-Ding. Doch ich glaube auch, dass dieses direkt aus der Multioptionalität folgt; oder genauer: aus dem Überangebot an Informationen. Denn aus einem Überangebot folgt die Oberflächlichkeit. Was erfahren wir denn über die Politiker von heute? Dass sie unschön lachen, während der Bundespräsident über ernste Dinge spricht. Dass sie von anderen abschreiben. Dass sie mit Nebeneinkünften und dem eigenen Lebenslauf nicht zurechtkommen. Immer wieder höre ich gerade diese Dinge als Grund dafür, warum man Politik-Akteuren nicht traut. Parteiprogramme, politische Inhalte, ... – wer weiß darüber schon im Detail Bescheid?

Will ich diese Patzer kleinreden? Vielleicht. Denn es wird dann problematisch, wenn sie mich vom Wählen abhalten, weil sie im Gegenteil aufgebauscht und immer wieder hervorgekramt werden. Meine politische Entscheidung möchte ich nicht abhängig machen von Fehlern, wie sie jeder von uns macht. Ich bilde mir nicht ein, dass es irgendeinen da draußen gibt, der nicht ein solches Stückchen Dreck am Stecken hat – nicht im Privaten und nicht in der Politik. Die meisten Fehler wurden nur nie aufgedeckt.

Ich werde wählen gehen und die Partei wählen, die mir politisch am nächsten steht. Punkt. Und genau das verwundert mich, denn eigentlich bin ich der Perfektionist in meinem persönlichen Umfeld. Ich bin es, der sich nie entscheiden kann, welches Kleidungsstück er kauft und stattdessen lieber die altbewährten weiterträgt (also faktisch nicht wählt). Ich bin es, der Dinge bis zum geht nicht mehr repariert, weil von den neuen Angeboten keines perfekt ist. Ich bin der, der jede Entscheidung vor sich herschiebt bis zur Deadline und darüberhinaus. Warum kann gerade ich fröhlich zum Wahllokal gehen (was ich noch 2012 nicht konnte) und so viele Nicht-Perfektionisten nicht?

Es ist noch nicht lange her, da habe ich erkennen müssen, dass Perfektionismus etwas anderes ist, als eine Sache sehr gut machen zu wollen. Die von mir oft propagierten guten Seiten des Perfektionismus (Aufgaben besonders gut erledigen; sorgfältiges Arbeiten) existieren einfach nicht. Als Perfektionist will ich Dinge nicht gut machen, sondern perfekt. Mein neues Kleidungsstück soll nicht gut passen und schön aussehen. Es soll perfekt passen, perfekt aussehen, perfekt haltbar sein und unter perfekten Bedingungen hergestellt werden. Und einen perfekten Preis soll es auch haben. Nichts weniger als das. Das ist etwas sehr anderes, als Dinge besonders gut zu machen oder sorgfältiges Arbeiten. Perfektionist zu sein ist kein Spaß, eher ein Zwang. Warum ich diese Lebensart ausgerechnet beim politischen Wählen überwinden kann, weiß ich nicht.

Aussagen wie „Nein. Wen soll man denn wählen?“ oder „... bei dem Kasperletheater ...“ sind für mich eng verknüpft mit dem Perfektionismus. Doch sie kommen auch von Menschen, die keinerlei Probleme beim Kleiderkauf haben. Warum können so viele Wahlberechtigte, die ansonsten beim Shoppen gerne und schnell zugreifen, nicht einfach eine Partei wählen, deren Inhalte ihnen einigermaßen gefallen? Warum muss es die perfekte Partei sein? Warum zum Beispiel wählt der leidenschaftliche Tierfreund nicht einfach die Tierschutzpartei? Ach ja, weil die keine Ahnung von sonstiger Politik hat. Warum der Naturfreund nicht kurzentschlossen die Grünen? Ach ja, weil Annalena so unerfahren ist. Warum der sozial Engagierte oder Frustrierte nicht wie selbstverständlich die Linken? Ach ja, weil die im vergangenen Jahrtausend mal die PDS waren. Und warum nicht die SPD? Zu unsozial inzwischen. Die CDU? Wegen der Werteunion. Die AfD wegen viel zu rechts, die MLPD wegen viel zu links, die FDP wegen viel zu liberal, die Violetten weil zu abgedreht, die Feministinnen weil zu einseitig, und die Partei Die Partei ist zwar cool, aber irgendwie auch einfach blöd.

Es ist genau wie mit dem Klimawandel: Wir wollen ja die Erde retten, aber ohne schmerzliche Umstellung unseres Lebensstils. Umwelt schonen ohne Verzicht? Das ist bei 8 Milliarden Lebensstilen auf dieser Welt an Absurdität wohl kaum zu toppen. Und doch beschreibt es genau, was uns vom Wählen abhält. Oft habe ich gehört: Ja, die Grünen werden als Regierung zwar die Umwelt erfolgreich schützen, aber auch unser aller Leben verändern. Ja, wir, wenigstens wir Deutsche, werden dann endlich unsere Erde schonen, aber was wird dann aus unserer heiligen Kuh der Wachstumspolitik? Dafür ist die Baerbock einfach zu unerfahren. Und sie hat abgeschrieben!

Wir müssen endlich lernen: Das Eine geht nicht ohne das Andere. Es gibt keinen perfekten Weg. Und wenn wir nicht bereit sind, den unperfekten zu beschreiten, dann werden es andere tun, nämlich die, die damit kein Problem haben, weil sie die freiheitliche Demokratie eh verachten. Wir sollten nie vergessen, dass nichts weniger als die Demokratie auf dem Spiel steht, dieses unperfekte aber beste aller Gesellschaftssysteme, das so viel Mühe mit sich bringt, aber auch ein Maximum an Freiheit. Diese Freiheit wird jeder von uns verlieren, wenn wir unsere Demokratie nicht hegen und pflegen. Oder mit Michel Friedmann im WDR: „... auf der anderen Seite sehen wir eine Ermüdung, eine Verfettung derjenigen, die eigentlich pro-demokratisch sind. Sie sind gemütlich geworden, sie haben sich um diesen Wert, die Idee der Demokratie, zu wenig gekümmert.“ Und: „... nur durch den Sauerstoff der Millionen Bürger und Bürgerinnen kann Demokratie blühen. Wenn nicht, dann trocknet sie aus.“

Meine Devise für diese Bundestagswahl lautet: Ich überlege, was mir in diesen Zeiten am wichtigsten erscheint. Ganz persönlich, ganz parteiisch. Dafür muss ich meine Herzensthemen sortieren. Und dann wähle ich die Partei, die der Position Eins in dieser Liste am besten gerecht wird. Und anschließend muss ich den Schmerz aushalten, den mir die übrigen Punkte auf der Liste bereiten. Das aber bin ich gewohnt als Perfektionist.

Und der Schmerz beim Verlust unserer freiheitlichen Demokratie ist damit nicht vergleichbar.

Michel Friedmann im WDR
(leider nur noch wenige Tage aufrufbar)
www1.wdr.de/fernsehen/aktuelle-stunde/alle-videos/video--minuten-mit-michel-friedman-100.html
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