Die alte Eiche in Plettenberg-Böddinghausen |
Ein nachdenklicher Zeitsprung in die Jahre 1980/81 |
Es muss Anfang 1981 gewesen sein, als die alte Eiche geschlagen wurde. Sie stand auf einer Straßeninsel an der Kreuzung Böddinghauser Weg / Albert-Schweitzer-Straße in Plettenberg-Böddinghausen. Plettenberg ist eine Kleinstadt im beschaulichen Sauerland (NRW). Ich war damals Schüler am Albert-Schweitzer-Gymnasium (damals noch Neusprachliches Gymnasium Plettenberg) in Sichtweite der Eiche und habe als völlig unpolitischer Jugendlicher nur am Rande mitbekommen, dass der Böddinghauser Weg ausgebaut werden sollte. Im Zuge dessen musste die Eiche weichen, und auch von Angehörigen meiner Schule gingen damals lautstarke Proteste aus. Zwar weiß ich noch, wie ich die Protestler bewunderte für ihr Engagement und mit ihnen um ihren Schützling bangte, doch so richtig realisiert habe ich das Ringen um den Baum erst, nachdem in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Eines Morgens war die Eiche einfach weg.
Niemand von uns Schülern hatte etwas geahnt, zumindest nicht in der Mittelstufe, in der ich damals dümpelte. Wie an jedem Morgen krakeelten wir zur Freude des Busfahrers ausgelassen durch den Schulbus. Doch als er zum Schulgelände einbog, sahen wir an der Kreuzung nur noch den Stumpf unserer geliebten Eiche. Das Entsetzen war groß, der Zorn nicht weniger. Das Unvorstellbare war geschehen. Die Stadtverwaltung hatte gnadenlos zugeschlagen, und die Sägespäne auf der kleinen Verkehrsinsel zeugten von einem Massaker wie sonst nur Hühnerfedern nach dem Besuch des Fuchses.
NACHRUF "Wir haben alle gepennt". Das sagte eine Schülerin auf der Pressekonferenz, die die SV zur Rettung der Eiche veranstaltete. Stimmt: wir haben geschlafen. Es ist schon seit Jahren bekannt, daß eine Schnellstraße durch Böddinghausen gebaut und daß die Eiche gefällt werden wird. Aber wir haben geschlafen, wir haben das nicht zur Kenntnis genommen und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wir haben alles auf uns zukommen lassen. Und jetzt- fünf Minuten vor zwölf- sind ein paar Leute aufgewacht und wollen noch etwas für die Eiche und gegen die Schnellstraße unternehmen, die Natur zerstört und Geld kostet, das dringend woanders gebraucht wird. Und wenn diese Aktion einen Sinn hat, dann diesen: daß ein Umweltbewußtsein entsteht, daß in Zukunft Schnellstraßen wie diese verhindert. Denn für die Eiche ist es zu spät: die Verwaltungsmaschinerie, die da in Gang gekommen ist, ist nicht mehr aufzuhalten, die abgerissenen Häuser können nicht mehr aufgebaut, die Bautrupps nicht mehr zurückgehalten werden. Aber das ist ja lediglich ein Kleinstadtereignis, das betrifft ja höchstens ein paar Schüler und einen alten Baum. Nur: vielleicht wird die Menschheit, vielleicht werden w i r irgendwann einmal aufwachen und erkennen: Wir haben geschlafen. Nur, daß es dann nicht um den Tod einer Eiche, sondern um den Tod der Menschheit geht. Wir wissen ja, daß die Menschheit ihre Lebensgrundlagen zerstört, wir wissen es irgendwo in unserem Kopf, aber wir werden den Moment, an dem es soweit ist, auf uns zukommen lassen. Und hilflos dastehen vor einer Maschinerie, die nicht mehr aufzuhalten ist: Fortschritt, Wachstum überall und um jeden Preis, immer mehr Menschen, immer mehr Straßen, der Mensch auf der Schnellstraße des Fortschritts - ja wohin? Vielleicht wacht die Menschheit früh genug auf. Vielleicht auch nicht. Die Eiche ist so gut wie tot. A.Greiner & B.Niederhoff |
Für uns Heranwachsende war das ein Schock. Nicht nur, dass man uns unsere geliebte Eiche genommen hatte – das war an sich schon schlimm genug. Doch da war nicht einfach nur ein Baum gefällt worden. Was ich in an diesem Tag verinnerlichte war das Gefühl der Ohnmacht. Es war mehr als deutlich geworden, dass sich Protest nicht lohnte. All die Mühe, all die Zeit, die von meinen Mitschülern in den Widerstand investiert worden waren – an diesem Morgen war alles wirkungslos verpufft. Man konnte schreien und toben wie man wollte, es änderte alles nichts an den Ratschlüssen, die pragmatische Schlipsträger an unerreichbar fernen grünen Tischen beschlossen hatten.
Ob diese Resignation auch die damals Aktiven erfasste, weiß ich nicht. Der Nachruf, der Ende 1980 bereits – also als die Eiche noch stand – in unserer Schülerzeitschrift Mit Schwung erschien, könnte einen zu dem Schluss verleiten. Ein Nachruf vor dem Tod des Betroffenen sieht schon sehr nach Kapitulation aus. Ein Satz wie: "[Wir werden] ... hilflos dastehen vor einer Maschinerie, die nicht mehr aufzuhalten ist ..." zeugt auch nicht gerade von großer Kampfbereitschaft. Aber eine andere Aussage macht mir heute deutlich, dass die Autoren doch grundlegend anders dachten als ich. Während ich blind wütend auf die bösen Stadtverwalter schimpfte, gaben sie sich nämlich selbst die Schuld dafür, dass sie den Baum nicht würden retten können. "Wir haben geschlafen", schrieben sie unmissverständlich und übernahmen damit eine bedeutende Verantwortung.
Dieses Denken passte in die Zeit. Anfang 1980 wurde beispielsweise die Bundespartei Die Grünen gegründet, in der sich umweltbewegte Menschen sammelten, die es leid waren, dass ihre Belange von den Staats-Lenkern so lange schon mit Füßen getreten wurden. 1983 zog diese "Anti-Partei" erstmalig in den Bundestag ein. Ebenfalls Anfang der 80er formierte sich eine neue Friedensbewegung (mit der Gründung der Grünen eng verwoben), und die Friedenstaube mauserte sich zu ihrem Symbol. Es folgten zahlreiche große Friedensdemos, 1983 beispielsweise in Bonn, Berlin und Hamburg, oder 1986 im Hunsrück gegen dort stationierte Cruise Missiles. Ostermärsche, Sitzblockaden, Fasten für den Frieden, Menschenketten, Greenpeace-Aktionen (in Deutschland seit 1980) – all das fand Anfang der 80er Jahre statt. Und all das hatte das erklärte Ziel, sich nicht eines Tages vorwerfen zu müssen: "Wir haben geschlafen."
Was ist geblieben von dieser Euphorie? An den Montags-Demos in meiner Stadt beteiligen sich aktuell zwischen zwei und zehn Teilnehmer. Die Grünen sind etabliert und vielleicht ein bisschen zahnlos geworden. Die Jugend scheint noch unpolitischer zu sein als ich damals. Ich habe nicht das Gefühl, dass heute noch irgend jemand um einen einzelnen Baum kämpfen würde. Doch auch ich, ein Erwachsener, sitze lieber gemütlich auf dem Sofa und schreibe Blog-Artikel, als mich irgendwo politisch einzubringen. Die Verwaltungsstrukturen sind gewachsen, Brüssel ist noch weiter weg als die grünen Tische von 1980, und das schieben wir gern als willkommene Ausrede vor, unsere Welt einfach allein zu lassen in den Händen all der pragmatischen Schlipsträger.
Die Eiche hat übrigens Nachwuchs bekommen. Irgendwann – das ist vollkommen an mir vorbeigegangen – wurden neue Eichen gepflanzt, nur wenige Meter vom alten Standort entfernt. Eine kleine Wieder-"gut"-machung, eine Art Ent-"schuld"-igung vielleicht für den Frevel, einen Baum zu fällen, der länger auf der Welt war, als jeder damals lebende Mensch.
PS: Die Geschehnisse um die Böddinghauser Eiche schreibe ich aus dem Gedächtnis heraus auf. Als Dokumente habe ich nur zwei alte Mit Schwungs. Zumindest im Internet finde ich keinen Hinweis auf das Ereignis.
Wer weiß mehr? Wer hat alte Fotos oder Zeitungsberichte? Wer war einer der Protestierenden oder sogar einer der Baum-Fäller (keine Angst, ich bin völlig nicht-militant).
Ich bin dankbar für jeden Hinweis.
Edit am 25.07.2013: Der Betreiber des Plettenberg-Lexikons im WWW hat in der gestrigen Ausgabe seiner Online-Zeitung Plettenberger Stadtgespräch über die Eiche und den Schülerprotest berichtet. Dort findet sich insbesondere ein schönes Bild der Original-Eiche, vermutlich aus den 70er Jahren:
http://www.plettenberg-lexikon.de/zeitung/24.07.2013.htm (untere Seitenhälfte)
Sonja Lehnert am 27.07.2017 um 16:24 Uhr | Der Artikel über die alte Eiche ist ergreifend und ich sehe Parallelen zur derzeitigen Innenstadtsanierung, der 43 Stadtbäume zum Opfer fallen sollen, wegen eines Beton Gestaltungsentwurf. Daher werde ich für die Erhaltung dieser Bäume kämpfen. |
Grundsätzlich mache ich hier keine Produktwerbung. Und auch jetzt geht es mir nicht um die Marke, sondern um das Prinzip: Der Einhandmischer, bei dem die Mittelstellung kaltes Wasser liefert. Ich selbst habe so einen von der Firma hansgrohe, die den CoolStart auf den Markt gebracht hat. Für mich eine der wichtigsten Erfindungen neuerer Zeit.
Ja, klar. Titel und Artikelbild sind reines Clickbaiting. Doch wenn dieser Artikel dadurch mehr Aufmerksamkeit erfährt, so hat er es verdient ;-) Denn es geht um die Fähigkeit des Menschen, mathematische Potenzen zu beurteilen. Oder eben die Nicht-Fähigkeit. Ein sehr wichtiges und ebenso vernachlässigtes Thema in Pandemie- und Klimawandel-Zeiten – mehr darüber weiter unten. Also bitte nicht gleich weglaufen, wenn du Mathe hasst.