Die Vernetzung der Welt |
oder: der Preis der Bequemlichkeit |
„Google kauft Spezialisten für vernetzte Haustechnik.“ oder „Google kauft Thermostat-Produzenten Nest.“ oder „Google kauft Nest Labs für 3,2 Milliarden Dollar.“ Auf diese Schlagzeilen machte mich ein Freund aufmerksam, den ich guten Gewissens als noch größeren Fortschrittspessimisten bezeichnen kann, als ich es schon bin. Fast immer, wenn wir uns sehen, diskutieren wir über die schöne neue Welt, kontrovers oft, aber sehr häufig kann ich nicht anders, als ihm in Vielem Recht zu geben. Und das tut meist sehr weh!
Was also ist so schlimm daran, wenn Google tief in die vernetzte Haustechnik einsteigt? Vordergründig scheint die Antwort leicht: Google erhält damit Zugriff auf Lebensgewohnheitsdaten privater Haushalte. Das ist eine prima Ergänzung zu den schon sehr umfassenden Surfgewohnheitsdaten fast der gesamten vernetzten Weltgemeinschaft. Was ich daran wiederum so schlimm finde? Muss ich das wirklich erläutern? Ja, heutzutage muss ich das tatsächlich erläutern! Wir Bürger scheinen den Sinn des Datenschutzes, ja des guten alten Briefgeheimnisses oder eines allgemeinen Kommunikationsgeheimnisses komplett vergessen zu haben. Wer nicht, den trifft heutzutage ein arger Erklärungszwang.
Dass Google und Facebook Daten sammeln, weiß jeder. WhatsApp leistet sich Sicherheitslücke nach Sicherheitslücke, überträgt ganze Adressbücher auf amerikanische Server, lange Zeit völlig unverschlüsselt. Ebenso unverschlüsselt erhalten Cloud-Dienste wie Dropbox alle Daten, die man ihm anvertraut. All diese Unternehmen sind us-amerikanische, unterliegen damit also luschi Datenschutzbestimmungen und dem unseligen USA-Patriot-Act. Diese Tatsachen aber scheinen niemanden wirklich aufzuregen. Als bekannt wurde, dass die NSA sogar die ahnungslose Kanzlerin abhört, war der Aufschrei zwar groß, aber ebenso kurz. Niemand sah sich gezwungen, ernsthaft dagegen vorzugehen, und heute scheint es niemanden mehr zu kratzen. Dies zumindest ist mein Eindruck. Jemand, der – wie mein Freund – konkrete Konsequenzen fordert und zu leben versucht, um Datensammlern das Leben zu erschweren, der steht bald mitsamt des genannten Erklärungszwangs im gesellschaftlichen Abseits.
Wie konnte es geschehen, dass sich die Welt heute derart bereitwillig entblößt? Erst 1983 erstritt sich die deutsche Bevölkerung das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – empört von der damals geplanten Volkszählung. Dreißig Jahre später verzichtet sie gleichgültig auf dieses Recht und wirft ungleich sensiblere Daten freiwillig und unaufgefordert ausländischen Privatunternehmern in den Schlund. Wie konnte die Welt den Wunsch nach Datenschutz, also nach einem modernen Briefgeheimnis verlieren?
Sie hat ihn nicht verloren, sie hat ihn geopfert, besser: verkauft; noch besser: verhökert. Er ist einfach der Preis für die Annehmlichkeiten der Vernetzung. Wollen Facebook-Freunde weiterhin befreundet bleiben, müssen sie Marc Elliot Zuckerberg eben ihre Daten überlassen. Für jemanden, der im umfassendsten Webkatalog Google stöbern will und/oder demnächst einen intelligenten Thermostat der Marke Nest verwendet, heißt der Gläubiger eben Lawrence Edward Page. Diese Computer-Freaks bieten uns die Bequemlichkeit, und auf die haben wir lange gewartet.
Mal eben eine Nachricht schreiben, mit ganz Vielen in Kontakt bleiben, gleichzeitig, mit kaum nennenswertem Aufwand, das ist hip. In einer geselligen Runde immer mal wieder abtauchen, um schnell auf eine Kurznachricht zu antworten, das ist unhöflich, aber inzwischen akzeptiert. Einen Brief zu schreiben, auf Papier, mit der Hand, ihn dann zusammenzufalten, einzutüten, sich um eine Briefmarke zu kümmern und dann einen Kurz-Spaziergang zum Briefkasten zu machen – das ist lächerlich und unmenschlich!
Angesprochen auf die massiven Datenschutz-Verletzungen bleibt somit meist nur ein hilfloses Schulterzucken und der Hinweis, dass man das nicht so eng sehen dürfe und dass die Daten sicher schon sicher seien. Oft folgt noch das Argument: "Das sind ja nur unwichtige private Alltäglichkeiten, die ausgetauscht werden" oder sogar die uralte Behauptung: "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten". Dies habe ich beides schon gehört, und zwar mehr als einmal. Wie kommt man dazu, so zu argumentieren?
Überall und jederzeit gibt es Menschen, die etwas zu verbergen haben, ohne kriminell zu sein. Es gibt so viele völlig legale Dinge, die man besser verheimlich, z.B. vor dem Arbeitgeber, dem Bekanntenkreis, der Familie; muss ich wirklich Beispiele nennen? Und ja, selbst Vater Staat sollte nicht alles wissen. Allein im vergangenen Jahrhundert gab es deutschlandweit zwei totalitäre Regierungen. Die Nazis und die Stasi hätten sich wie Kinder gefreut über das heutige freiwillige Überwachungs- und Datenerfassungsangebot der Bürger, und wären die Informationen noch so privat und alltäglich gewesen. Haben wir das vergessen? Glauben wir, das könne sich nicht wiederholen? Glauben wir, die NSA will uns nur beschützen? Oder glauben wir, bei gegebenem Anlass einfach wieder aussteigen zu können aus unserer Vernetzung?
Aussteigen? Rückschritt? Nein, wir werden nicht wieder aussteigen können, wenn einst die Thermostate über ein Netzwerk unsere Heizungen regeln, wenn unsere Kühlschränke für uns einkaufen und unsere Autos uns selbstständig und satellitengestützt herumkutschieren. Es wird ihn nicht geben, den Schritt zurück. Schon jetzt ist er unendlich schwer. Jeder Datentransfer, auch der unwichtigste und inhaltsloseste, verursacht weiteren Datensog – über sozialen oder staatlichen Druck. Datensog in ein Netz, von dem wir nicht einmal wissen, wer es kontrolliert. Kontrollverlust in existenzrelevanten Lebensbereichen – nicht weniger als das ist der Preis, und zwar einzig für die Bequemlichkeit.
An einen Stopp dieser Entwicklung glaube ich nicht. Bald wird die heutige smartbephonte Kindergeneration den Ton angeben. Vielleicht wird dies die erste Generation sein, die ihr ganzes Leben ohne greifenden Datenschutz gelebt haben wird (Name und Geburtstag eines Neugeborenen erfährt man schneller über Facebook, als über eine gehackte Standleitung zum Einwohnermeldeamt). Für sie würde eine Entnetzung noch viel dramatischere Opfer und schmerzhafteren Verzicht bedeuten, als für mich alten Sack. Und da ich mir keine Vernetzung mit sorgsam geschützten Daten vorstellen kann, deshalb bin ich überzeugter Fortschrittspessimist.
Sascha Lobo, der Blogger mit dem roten Irokesen, war das nie. Er nennt sich selbst Interneterklärer und glaubte immer an das WWW als großartiges Instrument der Freiheit und hat dementsprechend geschriftstellert. Heute aber, nach dem großen NSA-Skandal, gesteht er öffentlich, sich darin geirrt zu haben: „[Das Internet] wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil benutzt. [...] Das Internet ist kaputt.“ Dieser Mann hat – ohne Ironie – meinen vollen Respekt. Fehler zugeben und umdenken kann nicht jeder, schon gar nicht in so exponierter Journalisten-Position. Gleichzeitig belässt er es aber nicht beim Katzenjammer und fordert drei Tage später: „Der Kampf gegen Totalüberwachung und für die Gesundung des Internet ist so aussichtslos wie notwendig.“ Leider bleiben seine konkreten Kriegspläne seltsam unkonkret. Verschlüsselung, Dezentralisierung, politischer Druck – ich glaube nicht, dass damit das Internet datendicht wird (und sehe das so ähnlich wie Oliver Georgi in seiner direkten FAZ-Antwort an Sascha Lobo).
Das Prinzip der Vernetzung ist Datenfluss von jedermann zu jedermann, ist Zugriff von überall auf alles, ist Völkerwanderung der Terabytes, und zwar pronto, subito, sofort. Daten benutzen immer öffentliche Wege, denn niemand besitzt sein eigenes Internet. Hacker sind ihnen stets auf den Fersen – illegale wie staatlich bestellte. Schnelle Rechner können Daten filtern, speichern, mühelos aufbereiten und damit zeitnah und umfassend nutzbar machen. Vernetzte Daten können nicht sicher sein! Diese Binsenweisheit gehört einfach zum Prinzip der Vernetzung. Das Datenklau-Risiko kann bestenfalls minimiert werden, wie Sascha Lobo es sich wünscht. Am Prinzip der de-facto-Veröffentlichung aller das Internet passierenden Daten ändert das nichts.
Unser Staat handelt in meinen Augen schlicht verantwortungslos, weil er der NSA nicht die Stirn bietet. Aber auch, indem er die Daten seiner Bürger zunehmend ins Netz zwingt; meine Steuererklärung beispielsweise darf ich dem Finanzamt nur noch online zustellen. Doch auch Privatleute riskieren längst schon nicht mehr nur die eigenen Daten: Wer von meinen Freunden eifriger WhatsApp-User ist, hat inzwischen dafür gesorgt, dass meine Mobilfunknummer auf diversen unbekannten Servern in den USA dümpelt
© andrewgenn - Fotolia.com (durch den mehr oder weniger obligatorischen Adressbuch-Upload). Gegen meinen Willen und ohne mein Wissen!
Anders als der Sascha träume ich von Entnetzung, solange es noch geht. Für mich bedeutet das ein bewusstes Zurückschreiten, Rückschritt eben: weg vom blinden, innovationsgeilen Vorwärtstappen, weg vom Hype des Machbaren, weg von Kommunikationszwang und informationellem Gehetztsein, weg von Bequemlichkeit und Habenwollen, und damit auch weg von Ressourcenverschwendung und Energiehunger. Auf der anderen Seite könnte dieses Zurückweichen aber ein sich-Nähern sein, ein Fortschreiten in andere Richtungen: hin zu Nachhaltigkeit, Entschleunigung und Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration und Privatheit, hin zu sich selbst und tiefen Beziehungen zu Anderen. Burnout-Prophylaxe!
Vernetzung und Fortschritt mögen großartige Vorteile und Möglichkeiten bieten. Doch habe ich nicht den Eindruck, als könnten wir damit zu unserem Nutzen umgehen. Unsere Bequemlichkeit können wir befriedigen (wie die letzten Menschen im zauberhaften Kino-Film WALL·E). Aber ist das wirklich Nutzen? Ist das überhaupt Fortschritt? Mir scheint eher, als müssten wir nicht nur unseren Seelen die Zeit geben nachzukommen, sondern in erster Linie unserem Verstand.
Die drei ganz oben genannten Schlagzeilen stammen übrigens aus dem Focus, der Süddeutschen und dem Spiegel. Alle drei Redaktionen berichten über Googles Ankauf – alle drei mit streckenweise identischem Wortlaut. Auch das ist Vernetzung: eine einzelne Quelle zieht sich durch die ganze Medienlandschaft. Auch das ist Bequemlichkeit – und das Gegenteil von Vielfalt.
Grundsätzlich mache ich hier keine Produktwerbung. Und auch jetzt geht es mir nicht um die Marke, sondern um das Prinzip: Der Einhandmischer, bei dem die Mittelstellung kaltes Wasser liefert. Ich selbst habe so einen von der Firma hansgrohe, die den CoolStart auf den Markt gebracht hat. Für mich eine der wichtigsten Erfindungen neuerer Zeit.
Die Kleine Emscher ist ein Altarm der Emscher. Sie fließt von Oberhausen-Buschhausen nach Duisburg-Walsum und mündet dort in den Rhein. Diesen Weg bin ich neulich gegangen, über einen sehr schönen Fuß-/Radweg, vorbei an grünen und sehr naturnahen Kleine-Emscher-Auen. Und was sehe ich da am Wegesrand in Buschhausen? Diesen wundervollen Steinweg. Ich konnte nicht anders und habe einige dieser liebevoll gestalteten Steine fotografiert, um sie hier zu präsentieren. Für mich war dies ein besonderer Gruß meiner Mitmenschen in einer schweren Zeit des Social Distancings. Danke :-) Er hat mir den Tag verschönert.