Gesellschaft |
Wenn Stillstand schon der Tod ist |
über das Zurück |
Tausendsechshundert Wörter. Das ist die Obergrenze. Ein Literaturwettbewerb mit dem Thema: Rückwärts. Gedicht oder Prosa. Ich bin ja mehr der Mann für Prosa.
Rückwärts also. Da muss doch was gehen. Dazu fallen mir gleich tausend Dinge ein. Rolle rückwärts zum Beispiel. Na gut, das Thema trägt vielleicht nicht die ganzen tausendsechshundert Wörter lang. Aber rückwärts Einparken. Rückwärts Einparken trägt weit, sehr weit. Eine lustige Geschichte mit vielen Slapstick-Elementen, die Geschichte einer Frau, die rückwärts einparkt und ... Einer Frau? Wieso komme ich spontan auf eine Frau als Protagonistin? Das ist mir allerdings jetzt peinlich, ist es doch nur Öl auf die Lampen all der Macho-Chauvinisten, die sich über Frauen am Steuer aufregen – und so einer bin ich nicht, zumal Studien belegen, dass Frauen die besseren Autofahrer sind. Autofahrerinnen. Autofahrende, auch rückwärts! Ich glaube, das Thema ist mir zu heiß. Und zu billig – und zu abgegriffen. Aber was dann?
Ich frage mal das Internet. Rückwärts als Suchbegriff ergibt fast zehnmillionen Ergebnisse in 0,28 Sekunden. Die Liste beginnt mit: Telefonbuch Rückwärtssuche. Das war mal ein Thema mit Sprengkraft, heute aber eher langweilig. Wer hätte sich nicht längst daran gewöhnt?
Als weitere Suchergebnisse folgen der Duden, Wikipedia, Blabla, und dann ein paar Bilder. Eines zeigt eine Rückwärtsuhr. Das interessiert mich und ich klicke darauf. Als Jugendlicher habe ich die alte, mechanische Uhr meiner Oma auf Rückwärtslauf umgebaut. Sie war so eine schwere mit Messingzahnrädern und Westminster-Schlagwerk – die Uhr, nicht die Oma –, und der Umbau ging problemlos vonstatten, bis es darum ging, auch die Zugkraft der Zugfeder umzudrehen. Ich ging zu einem Uhrmacher, der mich für verrückt und mein Vorhaben zum Scheitern erklärte. Absurd sei das und könne nicht gehen. Zuhause habe ich dann die Zugfeder aus ihrem Messinggehäuse ausgebaut und mittels Bohrmaschine und Gewindeschneider eine Schraube in der Art in die Nabe geschraubt, dass ... naja, ich sollte niemanden mit Details langweilen. Jedenfalls baute ich alles rückwärts wieder zusammen und meine Uhr lief! Rückwärts. Jahrelang tat sie das und ich war stolz wie Oskar und den Uhrmacher fand ich doof. Und jetzt gibt es hier diese Rückwärts-Quarzuhr aus der Massenfertigung für keine zwanzig Euro. Ich schließe die Seite sofort. Das will ich einfach nicht sehen.
Ich blätter weiter durch die Suchergebnisse. Billy Rückwärts, eine Band aus Köln. Absurder Name, aber cool. Dann: Rückwärts Nießen beim Mops. Ebenso absurd. Ich lande auf einer erste-Hilfe-Seite für Möpse. Ich lese das Wort Qualzüchtung und dann lieber nicht weiter. Dafür bin ich gerade nicht in der richtigen Verfassung. Rückwärts reiten dagegen hört sich interessant an. Ein Klick und – oh, eine Pornoseite. Darüber sollte ich vielleicht besser nicht schreiben.
Also suche ich weiter, finde aber nichts, was nicht irgendwie absurd anmutet. Absurd wie dieser Buchtitel beispielsweise: Bodenlos oder ein gelbes Mädchen läuft rückwärts. Oder eine Zeitungs-Meldung: Verfahrener Schwertransporter fährt rückwärts auf A1. Direkt darunter die wichtigste Frage des Tages: Wie lang ist die Wegstrecke, die man mit dem Auto rückwärts zurücklegen darf? Ich sag’s doch: absurd. Mir reicht’s vorerst mit rückwärts.
Ich mache die Gegenprobe: vorwärts als Suchbegriff liefert weit mehr als die doppelte Anzahl an Treffern und braucht dafür sogar zehn Millisekunden weniger. Ganz oben steht die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie seit 1876, die natürlich niemals Rückwärts heißen könnte, sondern selbstverständlich Vorwärts. Dann folgen wieder Duden, Wiki, Blabla, und dann ein paar Dutzend Sportvereine: SV Vorwärts Gronau, FC Vorwärts Wettringen, TuS Vorwärts Augustfehn, Vorwärts Werbung – ach nein, das ist eine Werbeagentur. Genau. Wo bleibt eigentlich die Wirtschaft? Ist es nicht die Wirtschaft, die uns stets das Vorwärts predigt? Muss es nicht immer weiter gehen, und zwar vorwärts? Ist nicht der Fortschritt die heilige Kuh unserer Zeit? Heißt es nicht: Stillstand ist der Tod? Aber wenn Stillstand schon der Tod ist, was ist dann erst Rückschritt?
Rückschritt ist rückwärts Schreiten. Sich irgendeiner Tätigkeit rückwärts zu widmen hat aber immer etwas Absurdes, das hat mir meine Suchmaschine gerade bewiesen. Der Mops, der Schwertransporter, das ominöse gelbe Mädchen – rückwärts ist absurd und verrückt. Vorwärts dagegen ist vernünftig und bringt einen weiter, politisch wie sportlich. Vorwärts bringt den Erfolg, Stillstand wenigstens den Tod. Aber Rückwärts? Rückwärts geht gar nicht und gehört zum Menschen wie das drei-Liter-Auto zu Ferrari.
Apropos. 1979 schwamm Öl im Golf von Mexiko. Tschernobyl war 1986. 2010 dann wieder Öl, wieder vor Mexiko, ein Jahr später Fukushima. Einem spontanen Impuls folgend lade ich mir die Energiestatistik des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie herunter, Stand: 2014. Es ist, wie es ist. Nicht erst seit Tschernobyl steigt der Energieverbrauch stetig an, weltweit und auch in Deutschland. Das ist das Vorwärts, das die Wirtschaft braucht. Ein Rückwärts scheint kaum denkbar. Das mussten auch die Grünen erfahren im vergangenen Jahrtausend. Fünf Deutsche Mark für einen einzigen, winzigen Liter Benzin! Welch ein Aufschrei tönte damals durch Deutschland. Unser Land zurück in die Steinzeit, hörte man da, welch ein Rückschritt, was für eine Absurdität! Der Mensch will einfach nicht zurück. Vielleicht kann er es nicht einmal.
Nach Fukushima zwang ich mich, nur noch kalt zu duschen. Warmes Wasser schien mir mein persönlicher Energieverbrauchs-Posten Nummer eins zu sein, und ich wollte einfach etwas tun. Es war der bange Versuch, die Zeit um einige Jahrzehnte zurückzudrehen bis zu diesem winzigen Moment, diesen wenigen, unschuldigen Minuten zwischen meiner Geburt und dem ersten Mal, in dem man mich mit warmem Wasser wusch. Dieser unüberlegte Akt der Nächstenliebe gebar einen weiteren Warmduscher auf dieser Erde und legte den Grundstein für bis heute fast zwanzigtausend unnütz verbrauchte und polareisschmelzende Kilowattstunden allein durch mich. Und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht, denn ein Jahr nach Fukushima gab ich mir eine Kaltdusch-Auszeit aufgrund einer kleinen Erkältung. Die Erkältung ist längst Geschichte, die Auszeit aber hält bis heute an. Ich fürchte, seit damals in der Geburtsklinik bin ich süchtig nach Wärme im Wasser. Ohne langwierigen und qualvollen Entzug komme ich nicht davon los und bleibe ein Junkie umgeben von Junkies. Generationen vor mir waren das nicht, und es gibt keine Veranlassung, ihr Leben als unmenschlich anzusehen, nicht deswegen jedenfalls.
Ach du lieber Schreck! Zweitausendfünfhundert Wörter, allein bis hierher. Tausendsechshundert sind nur erlaubt. Ich muss kürzen, gnadenlos, rückwärts schreiben sozusagen, Wörter wieder freilassen, die ich mühsam eingefangen habe. Das Kürzen ist immer die Hölle. Ganze Passagen werden weichen müssen. Niemals werden sie nun ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Die rührende Geschichte dieses kleinen Königs beispielsweise, der Dezember heißt und alt geboren wird und schon alles kann, um dann immer jünger, kleiner und dümmer zu werden, bis er schließlich ganz in einer Bodenritze verschwindet. Na gut, muss ich mir eingestehen, die kann man auch woanders nachlesen. Nicht aber die des Mannes mit eingebauter Rücksicht, der nur hinten Augen hatte und auch stets nach hinten schaute und mit seinem Blindenstock eine Horde Neonazis verprügelte. Und wie gern habe ich die Liebesgeschichte von Hanna und Bernd niedergeschrieben, welche sich auf wirren Wegen fanden und sich so traumhaft ergänzten, da er doch so gern puzzlete und sie auch – sie aber nur rückwärts. All das muss jetzt weg!
- Pause -
So, erledigt. Tausendzweihundert Wörter – ich bin fix und fertig.
Vorwärts ist Erfolg, weiß ich jetzt, Stillstand ist der Tod, Rückwärts aber ist schlimmer als der Tod. Rückwärts ist die Hölle, die Hölle der Entgiftung und bedeutet Höllenqualen beim Entzug. Was der Mensch einmal kennt und was er liebt, das will er nicht mehr loslassen. Nie mehr. Das ist seine einzige Sucht. Dass er so nicht immer weitermachen kann, weiß und ignoriert er gleichermaßen, solange es ihm gelingt. Das ist seine übelste Charakterschwäche. Freiwillig wird er keinen Entzug wagen, dafür braucht er Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat: Einen Börsencrash, einen Krieg, einen Meteoriteneinschlag oder auch die unmissverständliche Vorgabe eines Literaturwettbewerbs, die ich bis hierher tatsächlich eingehalten habe – im Schweiße meines Angesichts.
Und jetzt darf ich nur den Abgabetermin nicht verpassen. Der Countdown läuft. Rückwärts.
am 06.01.2017 um 18:47 Uhr | Zitat: Was der Mensch einmal kennt und was er liebt, das will er nicht mehr loslassen. Irgendwie spricht mich diese Passage gerade am meisten an. Ich persönlich wollte nicht loslassen. Mache es aber dennoch. Leider befinde ich mich aber auch nicht auf dem Weg zurück, denn ich glaube, das ist uns Menschen gar nicht möglich. Man geht immer irgendwie vorwärts, auch wenn man, so wie ich gerade, bloß um das Geschehen herumschleicht und versucht herauszufinden, wo überhaupt vorne ist und was mich weiter bringt. Ich kann nicht zurück, aber das Zurückliegende analysieren. Und bei der Analyse fällt es mir ehrlich gesagt schwer, nicht einfach resigniert aufzugeben, liegen zu bleiben und mich dem Stillstand hinzugeben. Mir ist eigentlich gerade nach "Okay, das hat auch nicht geklappt, also berühre ich gar nicht erst irgendjemanden oder irgendetwas, dann würde die Angst vor dem Verlust auch nie so groß werden, dass ich es kreischend von mir werfe und weglaufe." Mich macht das Weglaufen zwar nicht glücklich, aber es gibt mir Sicherheit. Es ist wohl das, was ich kenne. Aber gewiss nicht liebe. Ich wäre gerne auch so unbeschwert nach vorne ins ungewisse fallend und wieder empor steigend, mich treiben lassend, frei von meinen Gedanken... Aber für mich fühlt sich das alles einfach nur wie ein Fall an. Andererseits weiß ich jedoch, dass Resignation unvernünftig ist. Ich will ja auch, dass sich was ändert...darum schleiche ich so herum und suche nach...nach was eigentlich? Momentan wohl Verständnis für etwas, zu dem mir die passenden Worte fehlen... |
am 09.01.2017 um 14:04 Uhr | Zitat: ... und versucht herauszufinden, wo überhaupt vorne ist Cool formuliert! Und ist das nicht das Wichtigste, das Du überhaupt tun kannst? Zitat: Ich wäre gerne auch so unbeschwert nach vorne ins ungewisse fallend ... Wäre das wirklich besser? Nur leichter. Mein Artikel ist eine Hommage an das Stillstehen und sogar das Zurückgehen. Nur im Stillstand kann man sich orientieren. Man muss stehen, um sich in aller Ruhe umzusehen, nach allen Richtungen und auch auf das, was man bisher so fabriziert hat. Und wenn man dann das Zurück als das beste Vorwärts erkennt, dann sollte man sich danach (neu aus-)richten und nicht trotzdem weiter in die bisherige Richtung stolpern, nur weil man doch nun schon bis hierher gekommen ist. Allerdings sollte auch niemand das "Zurück" zu einem eisernen Prinzip erheben, wie es das schon "Vorwärts" ist. Auch das Weglaufen ist nicht immer eine Lösung. Aber manchmal. Man muss wohl von Fall zu Fall entscheiden - das macht das Leben nicht gerade einfacher ... |
am 12.01.2017 um 17:43 Uhr | Zitat: Und ist das nicht das Wichtigste, das Du überhaupt tun kannst? Ja, es gab auch schon Zeiten, da hat sich dann wirklich fast nichts mehr bewegt...oder es schien zumindest nicht so, als gäbe es überhaupt einen Weg. Zitat: Man muss wohl von Fall zu Fall entscheiden - das macht das Leben nicht gerade einfacher ... Das stimmt. Es ist sehr komplex. Es lässt sich vieles schreiben und spekulieren und auch mit anderen diskutieren. Aber letztendlich bleibt es etwas mit unendlich vielen Möglichkeiten und Ausgängen... Man steht ja auch nicht wirklich still, wenn man sich im "Stillstand" befindet, besinnt und dann weitermacht. Man geht mit jedem Gedanken weiter. Das Leben...es ist schrecklich kompliziert, kann extrem leidvoll sein..., aber irgendwie ist es auch faszinierend. Gelegentlich. : ) |
Wir leben in turbulenten Zeiten. Wer will das bestreiten? Klimawandel, Krieg in Europa, wachsender Populismus in Politik und Gesellschaft, Inflation, Spaltung, Extremismus – vieles davon ist beängstigend für die meisten Menschen meines Umfelds. Ich selbst habe nie einen Krieg erleben müssen, doch jetzt steht er – gefühlt – vor der Tür. „Die Aussicht auf ein gutes Leben schwindet“, sagt der Studienleiter der aktuellen Studie „Jugend in Deutschland 2024“, wenn er über die Sorgen junger Menschen der Generation Z spricht (14 bis 29 Jahre). Und tatsächlich hat man oft den Eindruck, als ereile uns zur Zeit eine Katastrophe nach der anderen. Wie soll man in diesen Zeiten die Hoffnung bewahren?
Ja, klar. Titel und Artikelbild sind reines Clickbaiting. Doch wenn dieser Artikel dadurch mehr Aufmerksamkeit erfährt, so hat er es verdient ;-) Denn es geht um die Fähigkeit des Menschen, mathematische Potenzen zu beurteilen. Oder eben die Nicht-Fähigkeit. Ein sehr wichtiges und ebenso vernachlässigtes Thema in Pandemie- und Klimawandel-Zeiten – mehr darüber weiter unten. Also bitte nicht gleich weglaufen, wenn du Mathe hasst.