Kinder-Recht am eigenen Bild |
... und was hat das mit Kinderpornografie zu tun? |
Das Recht am eigenen Bild – das gibt es. Zumindest theoretisch. Das Gesetz gibt mir das Recht zu bestimmen, welche Bilder von meiner Person, also Fotos oder Filme, veröffentlicht werden und welche nicht. Seit 2019 gilt dies in verstärktem Maße für die digitalen Medien, also für Facebook und Co. Wie gesagt, das Recht am eigenen Bild gibt es. Aber: nicht für Kinder, könnte man meinen.
Kinder werden gefilmt und fotografiert wie niemals in der Geschichte. Früher waren Filme teuer und die Fotos wurden noch mühsam per Hand in ein Album geklebt. Heute werden Kinder ständig fotografiert und gefilmt, und die Bilder werden umgehend geteilt, veröffentlicht auf allen möglichen Internet-Plattformen – ach, das muss ich hier nicht erklären. Unfassbar viele Millionen Kinderbilder und -videos finden sich im World Wide Web.
Auch die, auf denen Gewalt gegen Kinder zu sehen ist. Kinderpornografie zum Beispiel. Kinderpornografie herzustellen oder zur Verfügung zu stellen ist strafbar. Das ändert nichts an der Tatsache, dass auch Minderjährige kein Problem damit haben, sich Bildmaterial von sexuellem Missbrauch an Kindern zu verschaffen – wie es erst Ende Oktober 2019 bekannt wurde. Gerade einmal Vierzehnjährige haben demnach Kinderporngrafie miteinander geteilt: die Vergewaltigung eines zehnjährigen Jungen durch zwei Jugendliche (wahrscheinlich in Afghanistan) und einen Fall von Cybergrooming. Die erwachsende Öffentlichkeit war schockiert und aufgeschreckt wie selten – Was bitte, so frage ich mich, glauben Erwachsene eigentlich, was Kinder und Jugendliche mit dem Smartphone so treiben, das sie ihnen selbst geschenkt haben?
Welcher Zusammenhang besteht nun aber zwischen dieser viel diskutierten Straftat der beteiligten Jugendlichen und Kinder einerseits und der harmlos scheinenden Familienbilderflut auf allen Internet-Kanälen? Ein ganz enger, behauptet Ursula Enders, Vorsitzende des Zartbitter e.V.. In einem Interview mit dem WDR (leider nicht mehr online) nimmt sie entschieden die Erwachsenen in die Pflicht, ...
„... die Kinder in allen Situationen fotografieren [...] Die Bilder werden an Verwandte weitergeschickt, d.h. auch Bilder, die Kindern peinlich sind. Kinder haben kein Gefühl für das Recht am eigenen Bild. Die Erwachsenen lachen auch über peinliche Bilder (peinlich für die Kinder), und so finden auch Kinder Bilder witzig, die eigentlich absolut nicht witzig sind.“
Kinder sind es heute gewohnt, jederzeit und stets ungefragt abgelichtet zu werden. Sie kennen es nicht anders, als dem „Bilder- und Internet-Wahn“ (O-Ton Ursula Enders) ihrer Eltern ausgeliefert zu sein. Für sie ist es normal, ihr Gesicht überall wiederzusehen, in allen möglichen peinlichen Situationen, und dass darüber gelacht wird. Auf diese Weise werden sie kaum lernen, wann es angebracht ist, selbst Bilder zu teilen, und wann wichtige Grenzen überschritten sind. Die Kinder in den o.g. Fällen sollen sich etwa mit Worten und Emojis über die Videos lustig gemacht haben – ganz so, wie es vielleicht sogar Ihre eigenen Eltern über unvorteilhafte Bilder ihrer Kinder taten.
Ebenso lernen Kinder nicht, dass eigentlich sie selbst es sind, die über eine Veröffentlichung eines eigenen Bildes zu entscheiden haben. Das Kinder-Recht am eigenen Bild gibt es nämlich doch – zumindest juristisch (Kunst-Urhebergesetz), zumindest also theoretisch. Es sieht allerdings vor, dass bis zum Alter von sieben Jahren die Eltern allein über Bildveröffentlichungen entscheiden, erst zwischen sieben und siebzehn dann müssen sowohl Eltern als auch das Kind einverstanden sein; dies ergibt sich aus dem BGB, Stichwort „Geschäftsfähigkeit“. Es gibt aber auch Aussagen, nach denen die Eltern das letzte Wort haben und die Kinder im Zweifel überstimmen (wer dies genauer recherchieren möchte, kann z.B. hier beginnen). Gegen dieses Vor-Recht der Erwachsenen über die Kinder kämpft der Zartbitter e.V. seit Jahren. Kinder müssen sehr frühzeitig das Recht am eigenen Bild lernen, sagt Ursula Enders im WDR und wird anschließend gefragt, ob Kinder im Kindergartenalter damit nicht überfordert seien:
Nein, die sind nicht überfordert. weil: Kinder können das sehr klar sagen, aber die Erwachsenen machen es trotzdem.
Die Erwachsenen machen es einfach trotzdem, wie sie wollen. Dies ist eine böse klingende Behauptung. Allerdings eine, die von der Universität Köln und dem Deutschen Kinderhilfswerk bestätigt wird. Im Jahr 2017 führten beide gemeinsam eine Studie zur digitalen Mediennutzung in Familien durch. Danach spricht das Kinderhilfswerk bei der digitalen Mediennutzung in Familien von „einer gravierenden Gefährdung der Persönlichkeitsrechte von Kindern“. Folgende Ergebisse stammen aus der Kurzzusammenfassung der Studie (PDF):
Ich kann und darf an dieser Stelle nicht viel mehr als diese wenigen schlagwortartigen Überschriften zitieren. Allerdings sind die erläuternden Texte unter diesen Überschriften allesamt sehr lesenswert (so wie auch die Langfassung der gesamten Studie). Der Tenor dieser Studie ist für mich die o.g. böse klingende Behauptung von Ursula Enders: Viel zu viele Eltern teilen die Bilder der Kinder einfach, ungefragt und sogar gegen den erklärten Willen der Kinder. Warum tun sie das, wo sie ihre Kinder doch lieben und nur das Beste für sie wollen? Vielleicht, weil auch sie nie das Recht am eigenen Bild gelernt haben.
Recht häufig taucht in der Studie das Wort „Hilflosigkeit“ auf, neben „Überforderung“, „Unbedarftheit“, „Pragmatismus“ und „Gewöhnung“ – alles Attribute für die Eltern wohlgemerkt! Zumindest die letzten drei Begriffe decken sich mit meinen subjektiven Beobachtungen: Eltern teilen die Bilder ihrer Kinder (gegen deren Willen), weil sie es können, weil sie es wollen, weil es üblich ist und weil man sich heute schon fast erklären muss, wenn man es nicht tut. Aber noch einmal gefragt: Warum ist so vielen Eltern diese Praxis viel wichtiger als die berechtigten Ansprüche ihrer Kinder? Für einen Erklärungsversuch führt die Studie Aussagen des Soziologen Zygmunt Bauman an:
Gleichzeitig zieht sich durch die Argumentationen der Eltern ein Phänomen, das Zygmunt Bauman „Adiaphorisierung“ nennt (vgl. Bauman/Lyon 2013): Die zunehmende Befreiung unseres Handelns von moralischen Skrupeln im Zuge digitaler Mediennutzung – einfach, weil es sich technisch so leicht machen lässt und weil die technischen Strukturen es nahelegen.
Der Zartbitter e.V. (und nicht nur er; z.B. auch das großartige Projekt „Dein Kind auch nicht“) kämpft seit vielen Jahren für mehr Bewusstsein beim Teilen von Kinderbildern in der Öffentlichkeit (und auch WhatsApp ist Öffentlichkeit; dass vielen Eltern das nicht bewusst ist, ist auch ein Ergebnis der o.g. Studie). Heute aber sind die ersten Menschen Eltern, die selbst bereits mit dem Smartphone aufgewachsen sind, und die – ganz wie ihre Eltern – offensichtlich keine Kenntnis vom Recht am eigenen Bild haben. Daher sehe ich kaum eine Aussicht auf Erfolg. Ursula Enders sieht das anders, wenn sie sagt:
Wir beobachten [...], dass ganz viele Jugendliche inzwischen ein sehr viel größeres Bewusstsein als Erwachsene haben. [...] Viele beziehen wirklich Position und stellen sich dagegen.
Na, ich will hoffen, dass sie damit Recht hat, und dass mich die jungen Leute noch überraschen werden :-) Dem Kampf gegen Kinderpornografie jedenfalls würde es helfen ...
Interview mit Ursula Enders von Zartbitter e.V. am 29.10.2019 auf WDR5 Kinder verbreiten Kinderpornos | https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-westblick-interview/audio-interview-kinder-verbreiten-kinderpornos-100.html (leider nicht mehr online) |
Der Zartbitter e.V. Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen | http://www.zartbitter.de |
RP-online: Vier Tatverdächtige in NRW sollen Kinderpornos verschickt haben | https://rp-online.de/nrw/panorama/kinderporno-razzia-in-nrw-vier-tatverdaechtige-auch-in-wuppertal_aid-46764905 |
Recht am Bild – Rechliche Informationen um das Urheber- und Fotorecht: Und sie war doch erst 17… | https://www.rechtambild.de/2011/04/und-sie-war-doch-erst-17/ |
Deutsches Kinderhilfswerk: Studie zur digitalen Mediennutzung in Familien | https://www.dkhw.de/schwerpunkte/medienkompetenz/studie-kinderbilderrechte/ |
Kurzfassung als PDF | https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1_Unsere_Arbeit/1_Schwerpunkte/6_Medienkompetenz/6.13._Studie_Kinder_Bilder_Rechte/DKHW_KinderBilderRechte_Kurzfassung.pdf |
Komplette Studie als PDF | https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1_Unsere_Arbeit/1_Schwerpunkte/6_Medienkompetenz/6.13._Studie_Kinder_Bilder_Rechte/DKHW_Schriftenreihe_4_KinderBilderRechte.pdf |
Die hier verwendeten Bilder stammen aus dem spannenden Projekt Dein Kind auch nicht von Toyah Diebel. Danke für die freundliche Genehmigung :-) | https://deinkindauchnicht.org/ |
Fotografin: Delia Baum | http://www.deliabaum.com/ |
Models: Toyah Diebel und Wilson Gonzalez Ochsenknecht | https://www.instagram.com/willywonkaweinhaus/ |
Auch interessant: Kinderfotos im Netz: Gepostet, geklaut, missbraucht Film von Sebastian Bellwinkel über massenhaft geklaute Kinderfotos in pädophilen Netzwerken | https://www.youtube.com/watch?v=PaM5D9JaEHY |
stachelmaus am 29.12.2019 um 18:16 Uhr | Hallo, da hast Du aber ein wichtiges Thema aufgegriffen und Dich engagiert sachkundig gemacht, Man kann deutlich erkennen, daß Du Dich klar damit einsmachst. Ich übrigens auch, da hast Du bei mir was losgetreten. Als ich mit meiner Tochter darüber sprach, sagte sie mir, wenn sie beabsichtige, Kinderbilder bei facebook einzustellen, fotografiere sie die Kinder nur von hinten. Und peinliche Szenen traue ich ihr überhaupt nicht zu. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begebenheit, wo man das Recht eines heranwachsendes Mädchen regelrecht mit Füßen getreten hat. Daß es uns begrüßen sollte, war kein Problem für die etwa sechzehnjährigeTochter des Hauses, aber als ein Erinnerungsfoto für uns gemacht werden sollte, lehnte sie ab. Man zwang sie, sie wehrte sich vergeblich, ihre Mutter zog die inzwischen Weinende fest an sich. Mein dringender Appell, doch keine Gewalt anzuwenden und den Willen der Tochter zu respektieren, wurde lachend mit der Bemerkung kommentiert, sie solle sich mal nicht so anstellen, und das Foto wurde gemacht. Anschließend befreite sich die Verstörte und flüchtete in ihr Zimmer. Sie tat mir so leid, ich konnte leider nicht verhindern, was man ihr antat. Äußerlich mag man das als nichts Besonderes abgetan haben, aber das war für mich selische Gewalt gegen einen Schwächeren. - Zum Abschluss noch ein Hinweis: Eines den beiden Wörter „ist” in der Reihe unter dem peinlichen Foto von dem schlafenden Mädchen ist zu viel, Du kannst Dich entscheiden, welches Du entfernen willst. Macht in jedem Falle Sinn !!! So, Gruß, die Stachelmaus |
am 30.12.2019 um 10:58 Uhr | Danke, stachelmaus, für den Kommentar. In der Tat muss ich zugeben, dass auch ich einige sehr verantwortungsbewusste Eltern kenne. Szenen wie die, die Du geschildert hast, in denen Kinderrechte übergangen werden, kenne ich aber leider auch. Es gibt solche und solche ... :-) Danke für die „Fehlermeldung“. Ist korrigiert ... |
Wir leben in turbulenten Zeiten. Wer will das bestreiten? Klimawandel, Krieg in Europa, wachsender Populismus in Politik und Gesellschaft, Inflation, Spaltung, Extremismus – vieles davon ist beängstigend für die meisten Menschen meines Umfelds. Ich selbst habe nie einen Krieg erleben müssen, doch jetzt steht er – gefühlt – vor der Tür. „Die Aussicht auf ein gutes Leben schwindet“, sagt der Studienleiter der aktuellen Studie „Jugend in Deutschland 2024“, wenn er über die Sorgen junger Menschen der Generation Z spricht (14 bis 29 Jahre). Und tatsächlich hat man oft den Eindruck, als ereile uns zur Zeit eine Katastrophe nach der anderen. Wie soll man in diesen Zeiten die Hoffnung bewahren?
Grundsätzlich mache ich hier keine Produktwerbung. Und auch jetzt geht es mir nicht um die Marke, sondern um das Prinzip: Der Einhandmischer, bei dem die Mittelstellung kaltes Wasser liefert. Ich selbst habe so einen von der Firma hansgrohe, die den CoolStart auf den Markt gebracht hat. Für mich eine der wichtigsten Erfindungen neuerer Zeit.