Der Schneekristallforscher von Titus Müller |
Poesie in blauem Samt |
„Es ist ein sehr poetisches Buch.“ Mit diesen Worten lud mich eine Freundin zu einer Lesung ein. Und mit diesen Worten hatte sie mich gewonnen. Ich folgte der Einladung in eine kleine örtliche Buchhandlung und hörte sie aus Titus Müllers Der Schneekristallforscher lesen. Ich wollte wissen, ob sie mit ihrer Behauptung Recht gehabt hatte. Hatte sie!
Um die vorletzte Jahrhundertwende lebte Wilson Bentley im ländlichen Jericho/Vermont, etwa 400km nördlich von New York, und führte das arbeitsreiche Leben eines Bauernsohnes. Er muss wohl ein besonderer Mensch gewesen sein, denn er opferte seine gesamte Freizeit dem Studieren der Schneekristalle, die so hoch im Norden reichlich und lange im Jahr fielen. Schon als Jugendlicher wartete er eingemummelt draußen auf den Schnee mit den schönsten Kristallen. Er fing sie einzeln auf einem Holzbrettchen auf und staunte über ihre Schönheit. Mit Hilfe des Mikroskops seiner Mutter betrachtete er die millimeterkleinen Wunderwerke näher und zeichnete sie. Doch seine Bilder kamen ihm selbst immer vor wie ein hilfloser Abklatsch Gottes vollkommener Schöpfung.
Seine Nachbarn sahen ihn als Spinner, sein Vater und sein Bruder warfen ihm stets vor, wertvolle Zeit zu verschwenden. Seine Mutter aber setzte durch, dass er im Alter von 17 Jahren ein Mikroskop und eine Kamera geschenkt bekam. Er bastelte und experimentierte ausgiebig – alles neben der harten Arbeit auf dem Hof – und hatte viele Monate lang nur Misserfolge. Seine Versuche waren mühsam und zeitaufwendig. Es war das Zeitalter der Photoplatten und schwarzen Stoffüberwürfe an den Kameras, und hier draußen in der Provinz hatte Wilson nie einen Lehrmeister. Was er wusste, wusste er aus Büchern.
Doch dann gelangen ihm endlich atemberaubende Fotografien einzelner Schneekristalle. So groß seine Begeisterung auch gewesen sein mag – schlimmer noch als seine anfänglichen Misserfolge muss das Unverständnis gewesen sein, dem er fortdauernd ausgesetzt war. Mutig schickte er einige Bilder an die New York Times, doch die lehnte eine Veröffentlichung ab. Erst viele Jahre später erkannte Professor George Perkins von der Universität von Vermont die Einzigartigkeit seiner Arbeiten und half ihm beim Verfassen seines ersten Fachartikels. Es folgten viele Veröffentlichungen seiner über 5000 Fotografien. Nur in seiner Heimatstadt interessierte sich zeitlebens niemand dafür.
Dies ist der geschichtliche Hintergrund, den Titus Müller seiner Erzählung zugrunde legt. In beschaulichem Tempo – angepasst an das beschauliche Leben im abgelegenen Jericho – versucht der Autor die Lebensumstände und die Gedankenwelt des Forschers zu ergründen. Was ihn antrieb, so erfahren wir im Nachwort, hat Wilson Bentley einmal so formuliert: „Unter dem Mikroskop entdeckte ich, dass Schneeflocken Wunder von atemberaubender Schönheit sind [...] Wenn eine Schneeflocke schmolz, war das Kunstwerk für immer verloren. [...] Mehr und mehr erfasste der Wunsch von mir Besitz, den Leuten etwas von dieser Lieblichkeit zu zeigen, der Wunsch, auf gewisse Art ihr Bewahrer zu werden.“
Über sein Privatleben dagegen hat Wilson Bentley wohl nur selten öffentlich gesprochen, und so erlaubt sich Titus Müller, um den wundersamen Eigenbrötler eine romantische Liebesgeschichte zu entspinnen. Nicht kitschig, sondern poetisch, angelehnt an die Poesie der flüchtigen Gebilde, die der Verliebte erforschte. Es ist Mina Seeley, die er zu erobern versucht. Sie kommt aus New York und ist vorübergehend Lehrerin in Jericho. Eine Frau aus der Großstadt und ein Bauer, das scheint nicht zu passen, und eine Lehrerin und ein Spinner erst recht nicht. „Welche Wahlmöglichkeiten man hat, hängt sehr davon ab, wo man geboren wird“, sagt Wilson einmal zu ihr, und spricht damit einen für mich zentralen Satz des Buches.
Ja, es stimmt: zwischen den mit blauem Samt bezogenen Buchdeckeln steckt jede Menge Poesie. Das liegt an jener „Lieblichkeit“, die Wilson Bentley offenbar als einer der ersten Menschen in Schneekristallen entdeckt und gewürdigt hat. Ob sein Denken und Handeln wirklich so poetisch war, wie wir es von Titus Müller erfahren, ob er seine Mina wirklich so innig geliebt und so engagiert um ihre Liebe gerungen hat, wie es im Buche steht, das weiß heute kein Mensch mehr. Dem Autor jedenfalls danke ich dafür, dass er es uns genau so erzählt hat; auch wenn Wilson Bentley womöglich – ganz vielleicht nur – doch bloß ein arroganter Kotzbrocken gewesen sein könnte.
Dies sei noch verraten: So langsam und besinnlich die Geschichte auch erzählt sein mag, in der zweiten Hälfte wird es durchaus temporeicher und spannender, als sich die Handlung zeitweise nach New York verlegt – angepasst an Schnelligkeit und Hetze der Großstadt.
adeo-Verlag gebunden in geprägtem Samt 160 Seiten ISBN-10: 3942208075 ISBN-13: 978-3942208079 |
"Snowflake" Bentley The offical Web Site of Wilson A. Bentley | https://snowflakebentley.com/ |
Die Story hinter dem Buch bei Claudias Bücherregal mit Kommentar von Titus Müller | http://claudias-buecherregal.blogspot.de/2013/09/die-story-hinter-dem-buch-muller-titus.html |
"The Snowflake Man" (a short film about Snowflake Bentley) | http://www.youtube.com/watch?v=ptLmA263hlk |
Vor einiger Zeit war ich im Internet unterwegs auf der Suche nach Informationen über Altersweitsichtigkeit, die mich als Ü40er langsam zu interessieren hat. Gefunden habe ich unter anderem ein freies eBook, das sich mit optischen Phänomenen in Natur und Alltag beschäftigt und deshalb auch genau so haist, nein heißt. Geschrieben wurde es von Tobias Haist, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität Stuttgart. Durchgelesen habe ich mir damals zunächst nur das Augen-Kapitel (eben wegen der lästigen Weitsichtigkeit) und war sofort begeistert.