Kurzgeschichte |
Die nächste Runde |
Gelbliches Licht fiel durch die beschlagene Glasscheibe ins Innere und blendete ihn. Entsetzlich lange war es dunkel gewesen, und zwar richtig dunkel, stockduster. All die vielen Stunden war er allein gewesen in dieser stickigen Hölle, in der die schwüle Luft nach Schimmel und Waschmittel roch, völlig allein mit sich und seiner Angst und seiner Einsamkeit. Ein paar Mäuse oder Ratten hatte er rascheln hören, ansonsten nur den trostlosen Klang der Totenstille. Bis jetzt. Denn endlich hörte er die geschäftigen Geräusche von draußen, die er so herbeigesehnt hatte. Das Schlurfen der Schuhe über den Kellerboden, das Quietschen der Holzlatten-Tür, ein Räuspern und das leise Knirschen beim Absetzen des Korbes auf dem rauen Estrich. Seine Angst wich neuer Hoffnung. Er wollte rufen und schreien, klopfen und stampfen, doch er konnte nicht anders, als weiterhin schlaff auf dem gelochten Stahlblech zu liegen und abzuwarten, was nun geschehen würde.
Viel Zeit zum Nachdenken hatte er gehabt, und viel Zeit zum Bereuen. Wie dumm ihm der zurückliegende Streit jetzt vorkam, der all das Elend ausgelöst hatte. Der Ärger über die eigene Sturheit und die immer wiederkehrenden Selbstvorwürfe schienen seinen Geist inzwischen zersetzt zu haben, denn er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, was eigentlich der Grund für ihre Auseinandersetzung gewesen war. Warum hatte er die Angelegenheit nicht einfach sachlich geklärt, sondern lieber die beleidigte Leberwurst gespielt? Warum hatte er einfach verschwinden wollen? Wie idiotisch er sich jetzt vorkam, als ihm seine eigene Dummheit klar wurde. Sicher, sein Partner hatte spüren sollen, wie ernst das Problem war. Er hatte sich Vorwürfe machen sollen, ihm hinterher trauern und sich dann endlich bei ihm entschuldigen sollen. Das war das eigentliche Ziel gewesen, und einfach zu verschwinden, um dieses Ziel zu erreichen, der Plan. Doch hatte er ihn auch in die Tat umgesetzt? Er wusste es nicht mehr. Hatte er sich wirklich absichtlich hier hinter diesem Mitnehmer versteckt, oder war es letztlich nur ein dummes Missgeschick gewesen?
Mit einem Mal öffnete sich die schwere Glastür. Wieder durchzuckte ihn der unbändige Wunsch, sich aufrichten zu können oder besser noch einfach herauszuspringen. Doch keine zwei Sekunden später wurde es plötzlich wieder duster, und die Ersten drängten sich lauthals durch die kleine Öffnung ins Innere. Jemand Kaltes, Feuchtes und besonders Übelriechendes legte sich schwer auf ihn und raubte ihm den letzten Atem. Doch die Last wurde noch größer, der Boden unter ihm vibrierte und dröhnte, das Stimmengewirr wurde immer lauter und er wusste, die nächste Runde hatte unweigerlich begonnen.
Eigentlich war ihm klar, was nun geschehen würde. Nicht zum ersten Mal fand er sich unversehens an diesem Ort und in dichtestem Gedränge wieder. Unzählige Male bereits hatte er dieses Verfahren über sich ergehen lassen, und wenn er ehrlich war, war es zwar unangenehm, aber auszuhalten und rückwirkend betrachtet auch immer eine große Wohltat gewesen. Dennoch war es diesmal völlig anders. Er hatte Angst an diesem Ort. Zu lange hatte er hier allein gelegen und sein Leben verflucht. Viel zu lange hatten ihn Ärger und Selbstzweifel zermürbt in den vergangenen Stunden. Und niemals zuvor war er ein Fremder gewesen unter so Vielen.
Ein Beben lief durch seinen Körper, als die Glastür geschlossen wurde. Die geschwätzigen Stimmen um ihn herum wurden kaum merklich lauter, und er erkannte keine einzige von ihnen. Ein Klappern und Klopfen durchfuhr das Metall, auf dem er lag. Dann hörte er das schreckliche Gurgeln unter ihm, das ihm immer schon einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Eigentlich wusste er, dass es keine Gefahr darstellte, aber heute musste er vor Entsetzen schreien. Es war ihm egal, was die Anderen von ihm dachten und schrie weiter, bis das Gurgeln plötzlich wieder verstummte. Mit einem Mal war es wieder totenstill, kurz darauf tuschelten ganz leise ein paar Stimmen.
„Was hat er denn?“, fragte jemand.
„Ich weiß nicht“, sagte jemand anders.
„Er ist ganz mies dran“, beteuerte der nasse Übelriechende auf ihm.
„Wieso, warum denn?“
„Er ist aus der letzten Runde zurückgeblieben.“
„Oh nein, der Ärmste!“
In ihren Stimmen schwang etwas mit, das ihn beeindruckte. Es war die Betroffenheit, die sie ausdrückten, das echte Mitfühlen, ja Mitleiden mit ihm. Seine Ängste waren ihnen nicht fremd. Und auch, wenn sie ihm fremd waren, standen sie alle auf seiner Seite. Er war nicht mehr – allein.
„Hör zu“, sprach ihn jemand an. „Wir wissen, was du durchgemacht hast. Einige von uns haben das auch schon hinter sich.“
„Erinner‘ mich nicht daran“, mahnte ein Anderer.
„Wir bleiben jetzt auf jeden Fall bei dir“, versprach ein Dritter.
Bei diesen Worten schöpfte er neuen Mut. Seine Angst wich einer großen Zuversicht, einer Geborgenheit inmitten dieser ihm zugetanen Gesellschaft. Vergessen waren Wut und Schuldgefühle. Mit einem Mal fühlte er sich wieder stark und war sich sicher, bald auch seinen Partner wieder zu sehen. Dann würde er sich bei ihm entschuldigen und nie, nie wieder würde er ihn verlassen. Sein Dank aber gebührte den treuen Seelen um ihn herum, die ihn bis dahin begleiten würden.
Von weiter oben hörte er ein Raunen. Zunächst verstand er nicht viel, doch nach und nach wurden die Stimmen lauter.
„Wie meinst du das?“, flüsterte eine.
„Pst, sei still“, zischte eine andere.
„Warum? Irgendwann muss er es erfahren.“
„Halt bloß den Mund! Er wird das schon schaffen!“
„Wie bitte? Hundert Prozent Wolle! Hallo? Vielleicht ist er dann noch zum Putzen zu gebrauchen.“
Wieder trat Stille ein. Eine entsetzliche Stille, entsetzlicher als die Stille der letzten Stunden.
„Was meint ihr damit?“, fragte er schließlich mit zitternder Stimme. Niemand antwortete.
Es dauerte sehr, sehr lange, bis sich jemand ein Herz fasste ihm traurig eröffnete:
„Das hier, mein lieber Freund, das hier ist Kochwäsche.“
In diesem Moment fühlten alle das laute Klacken. Dann kam das Wasser.
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„Patsch!“, rief Edmund, als wieder ein fettes Insekt auf der Windschutzscheibe zerplatzte. Der Scheibenwischer schmierte einen besonders unschönen Streifen über das Glas, und aus den Wischwasserdüsen sprudelten nur noch kleine Bläschen. Edmund fluchte. Nach nunmehr dreihundertfünfzig Autobahnkilometern wurde ihm die ganze Sache jetzt eigentlich zu undurchsichtig, doch er war spät dran. Die vom Navi prophezeite Ankunftszeit ließ keinen großen Spielraum mehr. Dieser Druck saß ihm im Nacken und pflanzte sich fort bis zum Gaspedal. „Fahr lieber etwas langsamer, dann kommst du schneller an“, war eigentlich sein Wahlspruch, doch heute musste er ihn verdrängen so gut er konnte.
Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Wir trafen uns fast jeden Nachmittag, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau. Natürlich war er nicht wirklich blau. Nicht, dass man hätte sehen können, wie er blau gefärbt gewesen wäre, an Händen oder Füßen oder gar im Gesicht. Vielmehr war es mein Bild von ihm, das ihn in dieser Farbe zeigte. Für mich hatte er immer etwas Blaues, in etwa so, wie die Zahl Zwei für mich weiblich und meine EC-Karten-PIN eine bestimmte Melodie ist.