Kurzgeschichte |
Abgedrängt, umgelenkt, gebrochen |
(1. Platz beim Literaturpreis des Autorenkreises Ruhr-Mark 2013) |
Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Wir trafen uns fast jeden Nachmittag, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau. Natürlich war er nicht wirklich blau. Nicht, dass man hätte sehen können, wie er blau gefärbt gewesen wäre, an Händen oder Füßen oder gar im Gesicht. Vielmehr war es mein Bild von ihm, das ihn in dieser Farbe zeigte. Für mich hatte er immer etwas Blaues, in etwa so, wie die Zahl Zwei für mich weiblich und meine EC-Karten-PIN eine bestimmte Melodie ist.
Karl hatte eine große Schwester. Anne ist ein gutes Jahr älter als er und besuchte ebenfalls unser Gymnasium. Sie drehte aber in der Acht eine Ehrenrunde, und so kamen wir in dieselbe Klasse, Anne, Karl und ich, und mogelten uns später gemeinsam durchs Abitur. Wie ihr Bruder hatte auch sie immer schon diesen Hang zum Blau. Mit den Jahren mischte sich jedoch etwas Grün hinzu, sodass sie dieses zarte Türkis umgab, in das ich mich verliebte.
Auch nach unserer Hochzeit verbrachten wir viel Zeit mit Karl. Wir feierten stets gemeinsam und fuhren oft zu dritt in Urlaub. Auch im August '88 war er dabei, als wir wieder einmal nach Ramstein fuhren. Wir alle waren verrückt nach Flugzeugen. Keiner von uns hatte einen Flugschein, doch die militärische Flugschau auf der Ramstein Air Base war für uns seit jeher ein fixer Punkt im Jahr gewesen. Bis zu diesem Tag verliefen die Strahlen unserer drei Leben so parallel wie die dreifarbigen Rauchstreifen der heran jagenden Frecce Tricolori, die zur Begrüßung über uns hinweg donnerten. Zehn Piloten in zehn Kampfmaschinen begeisterten uns und einige tausend Gleichgesinnte mit ihren Kunstflug-Figuren, die sie in den italienischen Nationalfarben an den Himmel malten. Wir beobachteten jede Wende, jeden Looping und dann die Form eines imposanten Herzens, das sich senkrecht vor uns erhob. Gespannt erwarteten wir das Finale der Show, doch als drei der Maschinen vor unseren Augen zerschellten, genau in diesem Augenblick, tauchten wir gemeinsam ein in eine andere Zeit. Die Sekunden, in denen sich der Feuerball in die Zuschauermenge bohrte, dehnten sich nicht etwa, wie sie es in einem Kinofilm getan hätten. Statt in Zeitlupe verstrichen sie so schnell, als hätte jemand den Vorspulknopf gedrückt. Wie Pfeile rauschten sie an uns vorbei und ließen uns das Inferno nicht begreifen. Warum war der Himmel mit einem Mal leer? Warum blieb das Finale aus? Irgendetwas hatte es verschluckt und unser Erleben auf die Erde zurückgeworfen. Wie in Trance taumelten wir durch dichten Qualm über eine Art Schlachtfeld, uns fest an den Händen haltend. Wir fragten niemanden nach Hilfe und brachten auch keine. Wir suchten nur einen Ausweg aus diesem Albtraum, und als wir ihn erreicht hatten, wussten wir nicht, wie wir ihn gefunden hatten. Wir schauten uns fragend an und fielen uns heulend in die Arme. Genau in diesem Moment kehrten wir wieder in die normale Zeit zurück. Wir tauchten auf aus etwas, für das wir keinen Namen hatten. Wir waren hindurch durch etwas, für das uns die Worte fehlten. Ein Ereignis hatte sich unserer gemeinsamen Bahn in den Weg gestellt, wie ein Glasprisma einem weißen Lichtstrahl im Physikunterricht. Wir waren eingetaucht, hatten es durchstoßen, um auf der anderen Seite wieder herauszutreten – abgedrängt, umgelenkt, gebrochen, jeder gemäß seiner Farbe. Den Aufschlag, die Flammen, den Lärm, die Schreie, die Gerüche und die verzerrten Gesichter konnten wir kaum klar erinnern, und doch hatten sie unsere Lebenswege stärker gefächert, als wir noch am Ende des Tages glaubten.
Zunächst bemerkten wir dies an Karl. Er zog sich zunehmend zurück, kam nur noch selten zu Besuch und lud auch nicht mehr ein. Anne und ich trafen ihn nur noch sporadisch und merkten bald, dass er zu Trinken begonnen hatte. Stets umgab ihn eine Fahne, immer öfter fanden wir ihn betrunken in seiner Wohnung vor. Innerhalb weniger Wochen war er zum Alkoholiker geworden. Fragten wir ihn, warum das so sein musste, antwortete er immer: „Die Träume. Es sind die Träume“.
Unter den Träumen litten wir alle. Was wir hatten sehen müssen, quälte uns zeitweise jede Nacht und bereitete uns Schlaflosigkeit und Depression. Wir alle waren in psychologischer Betreuung, bekamen Tipps und Methoden an die Hand, die Last der Erinnerung zu ertragen. Ich war der erste von uns dreien, der auf diese Weise wieder Schlaf und damit den Weg zurück ins Leben fand. Auch Anne schreckte nachts immer seltener auf. Ich arbeitete viel. Anne trat einen neuen Job an, als Karl seinen verlor. Als er eines Tages fast an einer Alkoholvergiftung starb, rastete ich aus.
„Er soll sich mal zusammenreißen!“, ließ ich Anne wissen.
„Das geht nicht so einfach“, nahm sie ihren Bruder in Schutz.
„Bei uns ging es doch auch.“
„Er ist eben anders als wir. Du weißt doch, wie ihn all das verfolgt.“
„Uns hat es auch verfolgt.“
„Aber er ist nicht wie wir. Er kann es einfach nicht überwinden.“
„Kann-Nicht ist der kleine Bruder von Will-Nicht!“, ließ ich mich hinreißen und bereute es noch in derselben Sekunde. Schlagartig wurde uns beiden bewusst, wie weit auch wir uns voneinander entfernt hatten seit August. Hielt uns bisher der gemeinsame Kampf um unseren Schlaf noch beisammen, so drifteten wir jetzt um so deutlicher auseinander. Keine Entschuldigung, keine lieben Worte oder innigen Umarmungen brachten uns je wieder auf denselben Kurs.
Etwa vier Wochen, nachdem Karl sich schließlich das Leben genommen hatte, verließ mich Anne. Bevor ich sie aus den Augen verlor, sah ich sie noch ein einziges Mal, als unsere Ehe geschieden wurde. Ihr grünlicher Ton war verflogen. Über die Monate hatte sie Karls ursprüngliches Blau angenommen.
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Jörg am 18.12.2013 um 16:27 Uhr | Hey Peter, ich freu mich, ich gratuliere dir und ziehe meinen Hut vor deiner Kunst. Toll. LG Jörg |
Stefan Lennardt am 22.12.2013 um 15:20 Uhr | Sehr berührende Geschichte. Starke Metapher: Das Prisma verändert, trennt. Wer hindurch geht, ist ein anderer - auch in Beziehung zu den Mitmenschen. Es überrascht mich, dass das Prisma zuerst da war (als Themenvorgabe) und dann die Geschichte kam. Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass die Geschichte genau diese Metapher braucht, dass die Reihenfolge also umgekehrt war. Glückwunsch! |
am 26.12.2013 um 17:06 Uhr | Eine solch kurze Geschichte mit einer packenden Erzählweise. Das muss es wohl gewesen sein, warum damit der Platz eins erreicht werden konnte. |
am 30.12.2013 um 14:33 Uhr | Danke Euch dreien für die netten Worte. Ich freue mich sehr, dass diese Kurzgeschichte so dermaßen gut ankommt :-) altesCoon |
Matthias am 05.01.2014 um 16:26 Uhr | Hi Peter! Es ist schon eigenartig, nach all den Jahren dich so wiederzusehen (nämlich in der WAZ). Allerdings kann ich dich in der Reportage gar nicht so wiedererkennen. Falls du mal Lust, etwas über dein Schreiben zu erzählen, würde ich mich freuen. Bis die Tage und schöne Grüße auch an Sabine als Kollegin, Matthias |
am 05.11.2021 um 07:23 Uhr | https://www.youtube.com/watch?v=A4Y5GGTK_5Q |
„Patsch!“, rief Edmund, als wieder ein fettes Insekt auf der Windschutzscheibe zerplatzte. Der Scheibenwischer schmierte einen besonders unschönen Streifen über das Glas, und aus den Wischwasserdüsen sprudelten nur noch kleine Bläschen. Edmund fluchte. Nach nunmehr dreihundertfünfzig Autobahnkilometern wurde ihm die ganze Sache jetzt eigentlich zu undurchsichtig, doch er war spät dran. Die vom Navi prophezeite Ankunftszeit ließ keinen großen Spielraum mehr. Dieser Druck saß ihm im Nacken und pflanzte sich fort bis zum Gaspedal. „Fahr lieber etwas langsamer, dann kommst du schneller an“, war eigentlich sein Wahlspruch, doch heute musste er ihn verdrängen so gut er konnte.
Die Erinnerung ist schon sehr verblasst. Die Bilder aber stehen deutlich vor meinem inneren Auge, als hätte ich das alles gestern erst erlebt – wie vergilbte Fotos aus der Zeit, schwarz-weiß, oder besser grau in grau. Grau wie der Asphalt der breiten Straße, in der wir kämpften, grau, wie unsere Mäntel, wie die Fassaden der zerschossenen Häuser, wie die Sandsäcke, hinter denen sich die Franzosen verschanzt hatten.