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Kurzgeschichte

Herausgerissen

Hohlweg
Hohlweg, Gemälde von L. Goville, 1830,
via Wikimedia Commons

Da vorne kommt wieder einer um die Wegbiegung. Nein, zwei sogar – Mist, dann wird es schwieriger. Einer allein hat meist schlechte Karten. Auf einem Wanderweg wie diesem kann er kaum zur Seite entkommen. Wie auf dem Präsentierteller ist er mir ausgeliefert, ohne jeden Schutz, ohne Deckung. Da erfordert es schon eine gewisse Dreistigkeit, um mir noch zu entwischen. Zwei zusammen haben da schon deutlich bessere Chancen. Sie können vorgeben, miteinander beschäftigt zu sein. Zum Beispiel können sie ein Gespräch führen, eine ernste Unterhaltung oder eine grobe Auseinandersetzung – dann ist es schon distanzlos von mir, auf sie einzudrängen. Vielleicht gehen sie sogar Hand in Hand oder gar Arm in Arm – wer will sich da schon zwischen quetschen? Bei einer größeren Gruppe wird es dann wieder etwas einfacher für mich, denn nicht jedes Mitglied ist fest in so eine Gruppe integriert und wird hinlänglich beachtet. Außenseiter gibt es immer wieder, und die gilt es herauszufischen.

Aber nun gut: dies ist keine Gruppe, dies sind nur zwei, ein Mann und eine Frau, beide um die dreißig. Schritt für Schritt spazieren sie mir entgegen, so wie ich ihnen. Sie berühren sich nicht beim Gehen und halten brav Abstand voneinander. Vielleicht kennen sie sich noch nicht lange. Auf jeden Fall aber haben sie nichts miteinander – zumindest noch nicht. Doch wie schon erwartet führen sie ein Gespräch. Nun ja, er führt ein Gespräch. Wild gestikuliert er mit den Händen. Aus zwanzig Metern Entfernung sieht es so aus, als erläutere er ihr gerade, wie er es fertigbringen will, ihr die Sterne vom Himmel zu holen. Oder, wie er am vergangenen Wochenende die tote Katze aus seiner Dachrinne geholt hat.

Ob sie mich schon bemerkt haben? Wenn ja, dann zeigen sie es nicht. Er fuchtelt immer weiter in der Luft herum, sieht nichts und hört nichts. Sie dagegen stiert vor sich auf den Boden, abwesend, gequält vielleicht. Keine Frage, sie wird es sein, die mich zuerst bemerkt. Nur noch wenige Schritte trennen uns voneinander und ich suche bereits ihren Augenkontakt. Gleich wird sie aufblicken und sich leicht erschrecken, sobald sie mich sieht. Doch umgehend wird sie die Chance begreifen, die ich für sie darstelle. Mit großen Augen wird sie mich fixieren, ihr flehender Blick wird versuchen, mich auf ihre Seite zu ziehen, mich zu ihrem Verbündeten zu machen. Und meiner wird ihr sagen, dass ich sie schon längst erhört habe, dass ich schon bereit war, sie zu erretten, als sie mich längst noch nicht bemerkt hatte. Herausreißen werde ich sie aus ihrer aussichtslosen Lage, befreien aus dem endlosen Schwall gesprochener Worte, sie entrücken aus der Trübsal ihres Kreuzwegs – und sei es nur für ein paar Schritte.

Konzentration jetzt! Gleich muss es geschehen. Ich hole tief Luft, wie der Jäger seine Waffe lädt. Noch drei Schritte, dann sind sie an mir vorbei. Ich presse die Luft, meine Munition, von innen gegen meinen Kehldeckel, und endlich, endlich schaut sie auf zu mir. Direkt in meine Augen fällt ihr Blick. Schon will ich die Worte aussenden, die mein Mund schon lange formt, da geschieht etwas Unerwartetes: Der Mann stockt in seiner Rede, lässt die Arme baumeln. Dies gilt der Frau offenbar als Zeichen, zum Leben zu erwachen. Sie wendet sich von mir ab und ihrem Gefährten zu. Ich glaube es nicht! Die wohl gewählten Worte bleiben mir im Halse stecken. Aus ihrem dagegen beginnen sie zu purzeln, wie gerade noch bei ihm. Hektisch faselt sie von Entspannungstechniken und von Yoga, ihrem neuen Hobby. Gerade noch erkenne ich, wie er sich ihr zuwendet, erstaunt und interessiert ihren Ideen folgend. Dabei treffen sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sind wir aneinander vorbei.

Vor einigen Monaten war das Wetter schlecht. Dicke Wolkenbänke schoben sich am Himmel ineinander und lasteten schwer auf der Welt. Ich ging allein über einen schmalen Weg, auf dem kaum Autos und noch weniger Fußgänger verkehrten. Ich schaute zu Boden. Meine Augen folgten dem Asphalt, der unter meinen Füßen herglitt. Der Sturm pfiff um meine Ohren und die ersten, eisigen Nieseltropfen schlugen auf meiner Nase ein. Und in meinem Innersten sah es genau so aus, wie um mich herum.

Es waren zwei gesprochene Worte, die mich herausrissen aus meiner Lethargie. Ich schaute auf und sah den jungen Mann auf der anderen Straßenseite, der mir gerade einen guten Tag gewünscht hatte. Er wirkte fröhlich – bei diesem Wetter! – und auch seine Stimme klang wie gut aufgelegt. Mehr sah und hörte ich nicht von ihm, wir waren schon aneinander vorbei. Doch es war nicht nötig, sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Stattdessen richtete ich mich auf, hob den Kopf und atmete tief ein. Kalte Luft füllte meine Lungen, neues Leben drang in mich ein. Und dann legte sich der Sturm. Ich sah auf zum Himmel und konnte zusehen, wie die Wolken aufrissen und im Nichts verschwanden. Die Sonne kam hervor und stand hell im tiefen Blau. Ich war so geblendet, dass ich gar nicht bemerkte, wie der Sturm mir die ersten Hagelkörner ins Gesicht peitschte.

Seit diesem Erlebnis wünsche ich jedem, der mir auf der Straße begegnet, einen guten Tag. Oft sogar einen wunderschönen guten Tag. Nicht in der Einkaufszone der Stadt, aber doch auf kleineren Wegen. Überall dort eben, wo mein Gruß auf fruchtbaren Boden fallen kann, wie auf diesem Waldspazierweg hier.

Doch viel zu oft scheint mein Gruß nicht erwünscht zu sein. Nur selten werde ich offen angeschaut, noch viel seltener beinahe aufgefordert, meine heilsamen Worte zu sprechen. Viel zu oft werde ich gar nicht erst beachtet, viel zu oft wird mir sogar der Blickkontakt verweigert, der einen Gruß unter Fremden rechtfertigen könnte. Wie oft muss ich mich im letzten Moment zurückhalten, schweigend vorüber gehen und meine Nachricht laut- und nutzlos ausatmen? Wissen diese Menschen denn nicht, wie sehr ein Satz fröhlicher Worte helfen kann? Verstehen sie denn nicht, dass er sie weiterbringen kann auf ihrem Weg? Warum entziehen sie sich mir, warum mogeln sich so viele vorbei? Warum verzichten sie auf einen einfachen Gruß, der sie geradezu herausreißen könnte aus dem eigenen Trübsinn? Aber vermutlich gibt es hier in dieser Gegend einfach keine trübsinnigen Menschen!

„Hallo.“

Erschrocken schaue ich auf. Ein Fahrrad rauscht an mir vorbei. Das Gesicht der Fahrerin kann ich nur aus den Augenwinkeln kurz erahnen. Sie sieht freundlich aus. Sie ist hübsch. Reflexartig drehe ich mich um nach ihr, doch sie ist schon wieder so weit weg.

Verdammt! Warum habe ich nicht besser aufgepasst?!

(c) www.coonlight.de
2012
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„Patsch!“, rief Edmund, als wieder ein fettes Insekt auf der Windschutzscheibe zerplatzte. Der Scheibenwischer schmierte einen besonders unschönen Streifen über das Glas, und aus den Wischwasserdüsen sprudelten nur noch kleine Bläschen. Edmund fluchte. Nach nunmehr dreihundertfünfzig Autobahnkilometern wurde ihm die ganze Sache jetzt eigentlich zu undurchsichtig, doch er war spät dran. Die vom Navi prophezeite Ankunftszeit ließ keinen großen Spielraum mehr. Dieser Druck saß ihm im Nacken und pflanzte sich fort bis zum Gaspedal. „Fahr lieber etwas langsamer, dann kommst du schneller an“, war eigentlich sein Wahlspruch, doch heute musste er ihn verdrängen so gut er konnte.

Die Erinnerung ist schon sehr verblasst. Die Bilder aber stehen deutlich vor meinem inneren Auge, als hätte ich das alles gestern erst erlebt – wie vergilbte Fotos aus der Zeit, schwarz-weiß, oder besser grau in grau. Grau wie der Asphalt der breiten Straße, in der wir kämpften, grau, wie unsere Mäntel, wie die Fassaden der zerschossenen Häuser, wie die Sandsäcke, hinter denen sich die Franzosen verschanzt hatten.

 
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