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Zurückgelassen

Wie umgehen mit der Einsamkeit?

Einsam im All

Manchmal, ganz selten, überfällt mich das Gefühl, allein und erdrückend einsam im Universum zu sein. Dann habe ich für einen Moment alle Freunde und Verwandten vergessen, die mein Leben zu einem gemeinsamen Unternehmen machen. Dann tritt mir der Angstschweiß auf die Stirn, denn dann fühle ich mich wie ein verlorener Astronaut im All, der frei und ohne jedes Rettungsseil durch das unendliche Universum schwebt, völlig allein zurückgelassen von dem Raumschiff, mit dem er kam. Und mal ehrlich: So ist es doch auch. Oder etwa nicht?

Grundsätzlich werden wir allein in diese Welt geworfen. Wir erscheinen völlig nackt auf dieser Erde, und genauso verschwinden wir auch wieder. Auch Zwillinge sind einzeln lebendig, auch Zwillinge sterben einzeln und für sich. Wir starten und enden eben allein. Zwischen Geburt und Tod allerdings haben wir Menschen den Hang, uns zusammenzutun und gemeinsam durchs Leben zu gehen. Oft genug geht das schief, oft genug folgt der Gemeinschaft der Krieg oder dem Finden die Trennung. Und doch ist das Beisammensein ein Garant für das Überleben der/s Einzelnen wie auch der gesamten Spezies Mensch.

Zwischen Geburt und Tod liegt eine mehr oder weniger lange Zeit, in der wir viel Hilfe benötigen, ohne die wir keine paar Minuten überleben könnten. Unsere menschliche Gesellschaft hat ein Netz gebildet, das uns alle auffängt und derart zusammenfügt, dass wir einander helfen – ganz praktisch im Überlebensalltag, aber auch seelisch, um dieses Alleinsein aushalten zu können. Wir geben aufeinander acht, und mit diesem Aufeinanderachtgeben haben wir als Menschheit viel erreicht. Wir sind erfolgreich als Team. Zusammen sind wir stark. Und während unserer langen Entwicklungsgeschichte haben wir uns aneinander gewöhnt. Mehr noch, wir spüren, dass wir einander brauchen, wir spüren Zuneigung und sogar Liebe. Warum das? Wegen unseres Unwillens, die Einsamkeit auszuhalten. Klingt komisch? Aber so funktioniert es doch überall in der Natur: Stets sind es die Triebe und dumpfen Gefühle, die Lebewesen zu ihrem Besten beeinflussen – ganz so, wie unser Durst uns trinken lässt und der Schmerz uns vor Dummheiten und Schaden bewahrt. Oder eben die Einsamkeit uns einander überhaupt erst suchen lässt.

Die Einsamkeit ist eine Art fiese Freundin. Sie quält uns so lange, bis wir bereit sind, uns einander auszusetzen, trotz der Gefahren, die wir füreinander bedeuen – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Warum dieses Risiko? Um erfolgreich zu sein; um zu überleben. Das ist gut eingerichtet so und belohnt uns mit dem schönen Gefühl der Verbundenheit und Liebe. Beides spüren wir in erster Linie innerhalb der Familie. Doch auch Freundschaften helfen gegen das Gefühl der Einsamkeit. Und selbst ohne Familie und Freundschaften gibt es Menschen, die zu uns stehen und uns Sicherheit garantieren – etwa die Person am Telefon, wenn ich den Notruf wähle, oder das Personal des Rettungswagens. Wenn ich dann allerdings im Krankenhaus über Stunden allein in einem Bett auf dem zugigen Krankenhausflur liege und auf ein freies Krankenzimmer warte, dann ist es schnell da: das Gefühl, jener Astronaut im All zu sein. Einsam und allein.

Es müsste jemanden geben, der immer, immer, immer bei uns ist, auch in den einsamsten Momenten und in den dunkelsten Tiefen des Weltalls. Genau das versprechen Menschen sich von Gott. Gott ist immer da, auch wenn wir von allen verlassen und mutterseelenallein sind, Gott liebt immer, auch wenn Menschen uns nach dem Leben trachten, Gott hilft immer, auch in den hilflosesten Momenten – so lauten tiefe Glaubenssätze verschiedenster Glaubensrichtungen. Der Einsamkeit jemanden gegenüberzustellen, ist für mich eine der Grundlagen für jeden Gottglauben. Und in der Tat bildet gerade die innige Verbindung zu Gott in der Zurückgezogenheit die Grundlage des Wortes „Einsamkeit“. Nach Odo Marquard bedeutete Einsamkeit in mittelalterlichen Zeiten eher Gemeinsamkeit. Gemeint war die innige Beziehung zu Gott.

Zunächst (wenn ich es richtig sehe) war dort „Einsamkeit“ überhaupt kein Wort für das Solitäre und Isolierte, sondern die deutsche Übersetzung von „unio“ im Sinne der „unio mystica“, der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott: Ihre Ein-samkeit war ihr Eins-sein als intensivste Form ihrer Kommunikation. Hätte sich dieser Wortsinn – Einsamkeit ist Vereinigung – erhalten und säkularisiert, könnte man heute – statt von der „Einsamkeit des Langstreckenläufers“ – von der Einsamkeit der Ehegatten sprechen und das meinen, was die Bibel zum Ausdruck bringt durch die Formel, beide seien „ein Fleisch“: die intensivste Form ihrer Kommunikation.

Odo Marquard: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit, 2012

Es ist spannend, wie sich eine Wortbedeutung über die Jahrhunderte verändern kann. Brachte die Einsamkeit damals die größte Erfüllung mit sich, so ist es heute großes Leid. Doch halt! Hier werden viele Menschen sicherlich widersprechen. Denn es gibt auch heute diejenigen, die die Einsamkeit suchen und lieben. Zeitweise sind wir alle sicher gern mal einsam, allein für uns, Me-Time. Dies ist ein Ansatz zur Achtsamkeit. Doch bitte nur zeitweise, höchstens als Kurzrlaub von den anderen. Menschen aber, die grundsätzlich gern allein sind und jede Begegnung höchstens als Kurzurlaub von sich selbst ertragen, gibt es auch. Das Wohlfühlverhältnis zwischen Einsamkeit und Gesellschaft ist für jeden Menschen höchst individuell und auch nicht gleichbleibend über die Lebensphasen oder Tageszeiten hinweg. Oft herrscht großes Unverständnis zwischen den Charakteren. Dass der Zurückgezogene Erfüllung in der Einsamkeit sucht und auch findet, kann der Gesellige kaum nachvollziehen. Die gern Einsame dagegen fragt sich, was an den Menschen, die gern auf Parties abhängen, wohl falsch ist. Dabei ist gar nichts falsch. Wir müssen nur verstehen, dass manche Menschen aus dem Zusammensein Kraft schöpfen, während es andere dagegen nur Kraft kostet. Und manche Menschen verzweifeln am Alleinsein, andere finden darin überhaupt erst ihre Ausgeglichenheit. Nochmal: Nichts ist daran falsch. So divers sind wir einfach gemacht, und in jeder Art liegen Stärken und Schwächen.

Stärken und Schwächen? Natürlich. Wie ich oben schon schrieb: Gemeinsamkeit macht uns nach außen hin stark. Wir erreichen mehr gemeinsam als allein. Doch im Kollektiv verlieren wir gern auch das Ziel aus dem Blick. In Gemeinschaft lassen wir uns eher treiben oder stolpern unbedacht voran. Erst in der Abgeschiedenheit fassen wir klare Gedanken. Erst die Ruhe des In-Sich-Gehens schafft Raum und Zeit für Erkenntnis. Viele berühmte Denkerinnen und Denker waren zurückgezogene Menschen. Viele allerdings wurden dabei auch wahnsinnig oder gingen zugrunde. Aus Einsamkeit vielleicht?

Es gibt ein gesundes und ein ungesundes Maß an Einsamkeit, individuell unterschiedlich, wie oben ausgeführt. Und es gibt gewollte und ungewollte Einsamkeit. Laut des Instituts der deutschen Wirtschaft bezeichneten sich im Jahr 2017 etwa 10% der deutschen Bevölkerung als dauerhaft und ungewollt einsam. Migration und Arbeitslosigkeit werden in der genannten Umfrage als förderlich für Einsamkeit genannt, aber auch Krankheit und Alter. Sicher gibt es noch viel mehr Faktoren, die ungewollte Einsamkeit begünstigen.

Außerdem glaube ich, dass Menschen das Ungewolltsein der eigenen Einsamkeit gern verleugnen. Ich denke an die vielen geschiedenen Ex-Ehegatten, die allzu schnell kolportieren: „Ich will keinen Partner mehr. Ich hab lieber meine Ruhe.“ Oder an ehemalige Mobbingopfer, die nach jahrelangem Martyrium sagen: „Mit Menschen kann ich nichts anfangen. Ich liebe lieber meinen Hund.“ Ich habe solche Sätze schon oft gehört und verstehe, dass man nach großen Enttäuschungen, langen Kämpfen und tiefen Verletzungen so denkt, wenn man also dem Wolf im Menschen begegnet ist. Ich glaube aber, dass in vielen Fällen trotz dieser selbstbewussten Worte der Wunsch nach Nähe da ist (und damit auch ungewollte Einsamkeit), dass aber die Angst vor neuen Verletzungen diese verbale Flucht nach vorne verursacht und damit wiederum neue, gute Chancen unterbindet. Aber was weiß ich schon? Ist nur ein Gefühl.

Auf jeden Fall gibt es die ungewollt Einsamen. Und jeder und jede von uns war vielleicht wenigstens für eine Zeit mal ungewollt einsam. Sehr endgültig allerdings fühlt es sich sicher für verwitwete Ehegatten an, die in hohem Alter und nach einem ganzen Leben an der Seite eines geliebten Menschen eben diesen verloren haben. Welch ein Loch reißt der Verlust dieser vertrauten Person in das Leben des/der Zurückgebliebenen? Den Schmerz kann ich nur erahnen. Ebenso die Kraftlosigkeit, die ein Zurückfinden in ein glückliches, wenigstens zufriedenes Leben erschwert. Doch gibt es viele Menschen, die diesen guten Weg gefunden haben. Ich kenne alte Menschen, die nach einem jahrzehntelangen, gemeinsamen Leben auch allein weitergehen können. Was unterscheidet diese Menschen von solchen, die an diesem Schicksalsschlag zugrunde gehen und von denen ich auch einige kenne. Ich glaube, der Unterschied liegt darin, ob man in einer Partnerschaft man selbst bleibt und auch offen ist für das Außen, oder ob man sich in der Beziehung als Individuum aufgibt und darin verliert.

Wer sich selbst in der Zweisamkeit verloren hat, wird allzeit verdrängen, dass der Tod diese Zweisamkeit beenden und die Einsamkeit bringen kann, besser: dass es sogar wahrscheinlich ist, dass es so kommt. Wer sich selbst in der Zweisamkeit verloren hat, wird es bereits schwer haben, noch während dieser Zweisamkeit auch mal eine Zeit der Einsamkeit oder Trennung auszuhalten. Ein Spaziergang oder gar einen Urlaub allein, ein Treffen mit Freunden ohne Partner oder Partnerin, ein Hobby mit fremden Gleichgesinnten – viele Menschen in festen Beziehungen kriegen das nicht hin, ob aus Eifer- oder Sehnsucht. Ein Philosoph, der mich in dieser Ansicht unterstützt, ist Georg Simmel:

[…] Soweit sich in dem Bau derselben [der monogamischen Ehe] die feinsten innerlichen Nuancen ausdrücken, ist es ein wesentlicher Unterschied, ob Mann und Frau bei dem vollkommenen Glück des Zusammenlebens sich doch noch die Freude an der Einsamkeit bewahrt haben, oder ob ihr Verhältnis niemals durch die Hingabe an diese unterbrochen wird—sei es, weil die Gewöhnung des Zusammenseins ihr den Reiz genommen hat, sei es, weil ein Mangel an innerer Sicherheit der Liebe derartige Unterbrechungen als Treulosigkeiten oder, schlimmer, als Gefahren für die Treue fürchten lässt.

Georg Simmel: Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908

Simmel liefert mir den Teilsatz, der mein Fazit begründet und den Kern dieses Artikels: Es ist die „Freude an der Einsamkeit“, die eben dieser ihre Bedrohlichkeit nimmt. Wer Angst hat vor der Einsamkeit, sollte sich nicht blind in Gesellschaft stürzen und glauben, sie damit zu überwinden. Niemand sollte sich an ein Gegenüber klammern in der Hoffnung, vor der Einsamkeit fliehen zu können – auch nicht an einen Gott. Wie wäre es stattdessen, sich mit jener fiesen Freundin anzufreunden, in guten Zeiten zu üben, sie auszuhalten, nein sie zu lieben und sinnvoll zu gestalten. Für mich ist dies ein guter Weg dazu, gelassen mit ihr umzugehen. So gelassen wie die gerade verwitwete alte Dame, die mir einst sagte: „Es war uns doch schon bei der Hochzeit klar, dass einer von uns beiden allein zurückbleiben wird. Und jetzt ist es halt so gekommen, jetzt bin es eben ich.“ Sie jedenfalls ist den guten Weg gegangen, hat ihr Leben ganz neu in die Hand genommen und mit Freude am Leben neu gestaltet. Aber sie war schon ihr ganzes Leben über offen für neue Erfahrungen und war interessiert an den vielen Dingen außerhalb ihrer Ehe. Sie ist mir ein wichtiges Vorbild geworden – neben all den anderen gewollt oder ungewollt Einsamen, die Freude an ihrem Leben haben.

Vielleicht fühlt sich jene Witwe auch manchmal so einsam wie ich, wenn ich als verlorener Astronaut durch das unendliche All irre. Vielleicht tritt ihr aber nicht der Angstschweiß auf die Stirn. Vielleicht verzweifelt sie nicht bei dem Gedanken. Vielleicht schaut sie sich stattdessen interessiert die große Sonne an, an der sie irgendwann vorbeischwebt, genießt ihr rötliches Licht und erfreut sich auch noch daran, wenn sie längst schon weitergeschwebt ist.

 

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf,
Gedankenwelt
https://gedankenwelt.de/der-mensch-ist-dem-menschen-ein-wolf-was-bedeutet-das/
Odo Marquard: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit, 2012 https://www.herder.de/el/hefte/archiv/2012/10-2012/plaedoyer-fuer-die-einsamkeitsfaehigkeit/
Me-Time: endlich ausgeglichen durch Zeit für mich
im AOK-Gesundheitsmagazin
https://www.aok.de/pk/magazin/wohlbefinden/achtsamkeit/me-time-um-sich-selbst-kuemmern/
Einsamkeit in Deutschland: Aktuelle Entwicklung und soziodemographische Zusammenhänge,
Institut der deutschen Wirtschaft, 2017
https://www.econstor.eu/bitstream/10419/198005/1/1667352865.pdf
Georg Simmel: Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908 https://socio.ch/sim/soziologie/soz_2.htm
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