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Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

Ein Schreibaufenthalt

Peter Coon in der Prignitz

Im Rahmen eines Preisgewinns im Ende 2021 (1. Preis für eine Kurzgeschichte; hier ein Artikel über die Preisverleihung) wurde ich zu einem zweiwöchigen Schreibaufenthalt nach Brüsenhagen/Prignitz/Brandenburg eingeladen. Ich wohnte dort auf Hof Obst in einer geräumigen Ferienwohnung und hatte alle Zeit der Welt, um neue Texte zu schreiben. Neben den äußerst netten Menschen, die ich kennenlernen durfte, hat mich besonders die Landschaft beeindruckt und ihre Auswirkungen auf meine Großstädterseele.

Nach der ersten Woche fand in der Kirche des kleinen Örtchens die Preisverleihung statt, und zwar – was nicht selbstverständlich ist in diesen Zeiten – vor Publikum. Für diese kleine Veranstaltung schrieb ich einen Text, in dem ich meine Eindrücke von der Brandenburger Umgebung formulierte und den ich bei der Preisverleihung vortrug. Ich versuchte, einen Bogen zu schlagen quer durch die Republik, von Oberhausen in die Prignitz, von der Wiege der Schwerindustrie in diese sehr ländliche Gegend. Auch wenn ich diesen Text speziell für das Publikum in Brüsenhagen geschrieben habe, das ich darin auch direkt anspreche, möchte ich ihn an dieser Stelle veröffentlichen für alle, die ebenso interessiert sind. Außerdem finden sich hier einige Fotos, die vor Ort entstanden sind.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

Peter Coon – Preisverleihung in der Prignitz

Ich wurde in die Prignitz eingeladen, genau hierher, nach Brüsenhagen. Ich komme aus Oberhausen. Oberhausen ist Rheinland und Ruhrgebiet in Einem. Vor Allem aber Ruhrgebiet oder Kohlenpott oder Ruhrpott oder schlicht Pott, wie wir im Revier gern sagen.

Der Pott ist nicht mehr das, was er mal war. Er war mal laut und dreckig. Ich kenne noch die Zeit, in der man täglich die weiße Fensterbank wischen musste, wenn man die schwarzen Rußteilchen nicht sehen wollte. Die Zeit aber, in der der Himmel wirklich diesig war vor lauter Qualm und Dreck, die kenne ich nur von Bildern. Die Zechen sind alle geschlossen, in Oberhausen auch alle Kokereien, Hütten- und Stahlwerke. Die riesige Gutehoffnungshütte, deren Geschichte Oberhausen seine Existenz verdankt, ist verschwunden. Geblieben ist nur der Gasometer und einige weitere denkmalgeschützte Industriebauten. Heute ist der Himmel klar. Sogar die Emscher ist sauber seit einigen Monaten. Es ist nicht mehr laut und dreckig im Ruhrgebiet.

Jedenfalls nicht mehr dreckig.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Stau bei Brüsenhagen

Ich wohne mit meiner Frau mitten im Zentrum von Oberhausen, keine fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Tatsächlich haben wir damit einen Glücksgriff getan. Wir haben alles direkt im Haus, was man zum Leben braucht: Im Erdgeschoss finden sich ein Büdchen, ein Internet-Cafe und eine Shisha-Bar. Darüberhinaus liegt unsere Wohnung direkt an einer verkehrsberuhigten Fläche. Hier ist es so leise, wie wohl an keinen anderen Ort in ganz Oberhausen. Die hohen Häuserzeilen schirmen uns bestens ab von der Haupt-Lärmquelle im Stadtgebiet: den Autobahnen. Die A40 im Süden, die A3 im Osten, A42 und A2 im Norden und mittendurch die A516 – wo auch immer man sich in Oberhausen befindet, hört man immer mindestens eine Autobahn – oder man steht sogar darauf, im Stau.

Das ist in der Prignitz anders.

In der Prignitz muss man lange gehen, bis man auf eine Autobahn trifft. Gut, leider muss man auch lange fahren, bis man auf eine trifft, wenn man sie denn mal braucht. Aber die kilometerlangen, schnurgeraden Bundesstraßen in Brandenburg sind schon beeindruckend für einen Menschen aus einer Region, in der selbst die Autobahnen scharfe Kurven haben. Mein Vater sagte dazu: In Brandenburg sieht man morgens schon, wer am Abend zu Besuch kommt. Aber mein Vater fragte auch, ob die Kreuzung in Rosenwinkel (ca. 130 Einwohner) eine Ampel habe. Ich habe das verneint.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

In der Prignitz ist es leise, weiß ich jetzt. Besonders in Brüsenhagen. Zumindest im Winter. Ich weiß, dass es auch auf dem Lande laut sein kann, denn immer fährt irgendwo ein Traktor, macht irgendjemand Holz, mäht seinen Rasen oder laubbläst seinen Vorgarten frei. Aber das ist ein anderer Lärm, ein temporärer Lärm, der zuverlässig nachts verstummt. Zumindest gibt es hier keine Shisha-Bar im Haus, die gerne mal nachts um Eins mit Live-Musik beginnt.

Ich schlafe gut in Brüsenhagen.

Peter Coon – Selfie :-)
Selfie

Diesen kleinen, östlichen Winkel der Prignitz erkunde ich zu Fuß. Zu Fuß kommt man natürlich nicht weit. Also nicht weniger weit als anderswo, doch hier bedeutet es, dass man maximal bis zum nächsten Ort kommt. Wenn es gut läuft und man die richtige Richtung wählt.

Meine erste Wanderung führte mich nach Rosenwinkel, wo ich eben diese gefährliche Kreuzung ohne Ampel entdeckte. Auf dem Weg dorthin überquerte ich die Bahnlinie am Bahnhof Rosenwinkel. Es fuhr sogar ein Zug – bei Weitem das lauteste Ungetüm in der ganzen Gegend und ungefähr so lang wie ein Gelenkbus in Oberhausen. Ich sah viele Vögel am Himmel und in den Wiesen, darunter zwei, von denen ich als unwissender Ruhri nur vermuten kann, dass es vielleicht Störche waren (Ergänzung: inzwischen weiß ich, dass es Kraniche sind). Ansonsten sah ich nur Wiesen, Wälder und Wasser, was äußerst erholsam ist für die geschundene Großstädter-Seele. Mehr braucht es nicht, um mal runterzukommen und die Herzfrequenz zu senken.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Am Bahnhof Rosenwinkel ...
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
... mitten im Wald
Kraniche in der Prignitz
Unzählige Kraniche ...
Kraniche in der Prignitz
... auf allen Feldern ...
Kraniche in der Prignitz
... und in der Luft

Apropos senken: Beim Hinabsehen auf den Weg zwischen Brüsenhagen und Rosenwinkel entdeckte ich eine Gemeinsamkeit zwischen hier und Oberhausen. Es ist die Bodenbeschaffenheit, die sich ähnelt. In Brandenburg ist der Boden sandig und – wie ich herausfand – zumindest früher auch sehr moorig. Das hat er mit dem in Oberhausen gemein. Natürlich nicht mit den asphaltierten Straßen und den leider weit verbreiteten Steinvorgärten. Ich meine den Boden, wie er früher einmal war, vor Gasometer und Gutehoffnungshütte. Auch er war sandig und moorig, bevor er zur Wiege der Ruhrindustrie wurde. Das ist nicht weiter verwunderlich, da beide Regionen zur Mitteleuropäischen Senke gehören, die geprägt ist durch eiszeitliche Gletscher und wiederkehrende Überflutungen in der Frühgeschichte der Erde. Doch mich überrascht es trotzdem, denn ich bin über Stunden hierhergefahren und finde hier vor, was dort früher einmal war. Diese Gegend ist ein Blick in die Vergangenheit meiner eigenen Heimat. Und ich bin wirklich ein wenig neidisch, denn hier kann ich Dinge tun, die habe ich noch nie getan.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

Am dritten Tag meines Aufenthaltes lief ich auf der L145 von Kolrep Richtung Blumenthal. Zunächst fiel mir auf, dass hier selbst die Alleebäume Hausnummern tragen, danach, dass ich mir dringend Fuß- und Radwege wünsche in der Prignitz. Denn hier fahren erstaunlich viele Autos. Und 100kmh sind kein Spaß in zwei Meter Abstand. Also verließ ich die Straße und betrat eine offene Wiese von der Größe eines ganzen Oberhausener Stadtteils. Ich lief bis in die Mitte, was eine ganze Weile dauerte. Hier schaute ich mich um. Im Norden lag die Straße, von der ich gekommen war, weit entfernt und kaum noch sichtbar. Im Osten begrenzte ein Wäldchen die Wiese, im Süden die hohen Gräser eines Feuchtgebietes, und direkt dahinter lag Brüsenhagen. Von Westen her betrachteten mich elf Schafe.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Hier ...
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
... tragen ...
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
... die ...
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
... Bäume ...
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
... Nummern
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz

Mehrfach drehte ich mich im Kreis und staunte über diese Weite. Und währenddessen hörte ich – nichts. Außer dem Großstadtpfeifen in meinen Ohren natürlich und ab und zu einem Vogel über mir. Ansonsten: nichts. Wir Menschen haben ja keine Ohrenlider. Daher ist das Nichts-Hören purer Luxus. Besonders natürlich für Leute aus dem Revier, aber sicher auch für die Opfer von Traktor, Kettensäge und Rasenmäher. Ich jedenfalls genoss diesen Luxus und setzte mich dazu auf den warmen, sandigen aber grasbewachsenen Boden. Ich saß nur da und starrte in die Gegend. Ich hörte nichts und dachte auch nicht viel.

Irgendwann bemerkte ich, wie die Schafe mich anstarrten. Sie glaubten wohl, ich sei ein Verrückter. Vielleicht dachten sie, ich würde hier auf jemanden warten oder mich zum Sterben hier niederlassen. Vielleicht haben sie aber auch gedacht: »Och, guck mal da. Das machen die Einheimischen auch immer. Nur eben sonntags und nicht mitten an einem Montag.«

Ich hoffe sehr, dass Sie alle von Zeit zu Zeit auf dieser Wiese hocken und den Schafen einen Grund zum Schmunzeln geben. Ich wünsche es Ihnen jedenfalls. Und ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie alle genau wissen, was Sie an diesem herrlichen Landstrich haben.

Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Katzenbilder gehen immer
Katzenbilder ...
Katzenbilder gehen immer
... gehen ...
Katzenbilder gehen immer
... immer
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Hühner auch
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Vom Ruhrgebiet in die Prignitz
Weißer Mond mitten am Tag
Weißer Mond mitten am Tag
Farbige Sterne im Orion
Farbige Sterne im Orion
Peter Coon in der Prignitz
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Bericht über die Preisverleihung auf meiner Autorenhomepage www.petercoon.de https://www.petercoon.de/news/2022-03-30-literaturpreis-nordost-2021-preisverleihung
Wettbewerbsseite
15. Literaturpreis Nordost 2021
https://www.literatur-nordost.de/2021-scherben/
Seite beim Literaturpreis Nordost
mit den Videos der vergangenen Preisverleihungen (seit 2021)
https://www.literatur-nordost.de/preisverleihung/
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Als Ton- und Theatertechniker betreue ich u.a. das Achja!-Theater aus Essen. Seit März 2020 hatten wir allerdings aus irgendwelchen Gründen so gut wie keine Engagements mehr. So muss es wohl sein in diesem Jahr. Als Theater kann man darüber jammern, oder man kann in die Offensive gehen. Nein, ich meine nicht die Querdenker. Ich meine eigenverantwortliches Engagement und das kreative Erschaffen von etwas Neuem.

 
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