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Mordfall Mirco - dem Täter vergeben

Mircos Eltern über den Verlust ihres Kindes

am 11.04.2013

Wie können Eltern weiterleben, deren Kind verschwindet und nach knapp fünf Monaten der Ungewissheit tot gefunden wird? – misshandelt und ermordet von einem Mann, der anschließend zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Hierum und um etliche andere Fragen ging es gestern Abend bei einer Veranstaltung der ICMedienhaus GmbH in der Martin-Luther-Kirchengemeinde in Witten an der Ruhr. Sandra und Reinhard Schlitter, die Eltern des kleinen Mirco, berichteten von den Geschehnissen im Jahre 2010 und danach.

Die Schlitters

Mirco: Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen. Dies war der Titel dieser interessanten und bewegenden Veranstaltung (sowie des Buches, das Mircos Eltern inzwischen veröffentlicht haben). Viel zu viele Aspekte wurden angesprochen, als dass ich sie hier in einem Blog-Artikel erschöpfend behandeln könnte. So möchte ich mich auf einen Punkt beschränken, der deutlich hervorstach. Wie schon der genannte Titel schien fast der gesamte Abend auf ein Wort hinauszulaufen: Verzeihen.

Verzeihen, so erfuhr das Publikum in einem fünfundvierzigminütigen Vortrag von Sandra Schlitter, habe bei ihnen auf zwei unterschiedlichen Ebenen stattgefunden. Zum Einen hätten sich die beiden Eheleute von Anfang an zugesprochen, sich keinerlei Vorwürfe zu machen. Sollten sie als Eltern irgendwelche Fehler begangen haben, so wollten sie sich diese nicht vorhalten, sondern sich gegenseitig verzeihen. Dies war die Voraussetzung dafür, dass ihre Ehe nicht auseinanderbrach, wie es häufig in ähnlichen Fällen geschieht. Diese Vergebungs-Bereitschaft habe ihnen die Möglichkeit eröffnet, als Familie zusammen zu halten und sich gegenseitig zu stärken.

Dann aber – und jetzt wird es schwierig – haben sie auch dem Täter seine Tat vergeben. "Huch!", wird mancher sagen, der dies zum ersten Mal hört. Einem Un-Menschen vergeben, der aus einer unerfindlichen Laune heraus, oder vielleicht sogar völlig geplant ein Kind entführt, missbraucht und anschließend erdrosselt und verscharrt? Wer will denn das? Wie soll das gehen? Was sind das nur für Über-Menschen?

Schnell wurde dem Publikum deutlich, dass der Hauptbeweggrund für das Vergeben der christliche Glaube der Familie war. Der damalige SOKO-Chef Ingo Thiel (selbst Autor eines Buches über den Fall Mirco), dachte zunächst, er sei an religiöse Spinner geraten, berichtet Sandra Schlitter schmunzelnd. Das habe sich gegeben, als er sie näher kennengelernt habe. Schließlich sei er beeindruckt gewesen von der Art, wie sie mit ihrem Verlust umgehen; vielleicht ja auch, ergänze ich, von ihrer Authentizität, der konsequenten und sehr reflektierten Art, wie sie offensichtlich ihren Glauben leben. Sandra Schlitter: "Wenn ich das Vaterunser bete [... und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...], dann muss ich auch vergeben, wenn mir jemand mein Kind nimmt, nicht nur dann, wenn mir jemand dumm kommt." Von Übermenschentum will sie nichts wissen, und ihr Mann stellt etwas später klar, dass die Vergebung keineswegs ein leichtes Unterfangen war, sondern ein langer Prozess, der auch heute noch anhält.

"Django" wurde Mirco in der Familie gern genannt, habe ich gestern erfahren, denn Mirco sei ein aufgeweckter, pfiffiger und sportlicher Zehnjähriger gewesen. Natürlich erinnerte ich mich sofort an meine Film-Rezension zu Django Unchained vor genau zwei Monaten hier im Blog. Filme, in denen Rache, also Gewalt als Reaktion auf Gewalt, hofiert wird, muss ich echt nicht haben, schrieb ich dort. Dass Rache der größte Mist ist – dazu stehe ich nach dem gestrigen Abend mehr denn je. Dass Vergebung der einzig gangbare Weg zum (Achtung: Utopie!) Weltfrieden ist – davon bin ich überzeugt. Dennoch kam mir eine Sache zu kurz:

Vergebung kann nicht erzwungen werden! Eine auf Aufforderung gegebene Vergebung ist so faul wie eine auf Aufforderung gegebene Entschuldigung. Gerade im christlichen Umfeld wird Opfern gern nahegelegt, den Tätern zu vergeben. Doch ist Verzeihen längst nicht mehr ein Privileg der Religiösen. Auch in Psychotherapie und "professioneller" Traumabewältigung wird meines Wissens großflächig zu Vergebung geraten. So gut ich das finden mag, so schnell kann dieser Ratschlag in unheilvollen Druck entarten. Ist nämlich jemand nicht bereit oder in der Lage, einem Peiniger zu vergeben, und wird er dann immer wieder darauf hingewiesen, wird er die "Schuld" an dieser "Unfähigkeit" vielleicht irgendwann bei sich selbst suchen. Das Opfer wird erneut zum Opfer. Einer wirklichen Verarbeitung des Erlebten steht dies im Wege. Später kann es somit geschehen, dass schließlich doch noch Rache genommen wird, nämlich an schwächeren Stellvertretern – Opfer werden zu Tätern, oder anders gesprochen: viele Täter waren früher Opfer derselben Tat.

Einen Artikel, der dies genau beleuchtet (allerdings im Zusammenhang mit sexueller Gewalt innerhalb der Familie) habe ich hier gefunden: Mythos der Vergebung. Er enthält wertvolle Hinweise darauf, was geschehen kann, wenn halbherzig oder auf Aufforderung "vergeben" wird. Aus meiner Sicht macht er jedoch einige Fehler, die ein unnötig negatives Licht auf das Verzeihen wirft. Dies wird besonders deutlich in den zahlreichen zustimmenden Kommentaren. Vergebung wird dort oft gleichbedeutend mit erneutem Täter-Opfer-Kontakt gesehen, ebenso mit Verzicht auf Strafverfolgung. Beides steckt für mich nicht in dem Begriff des Vergebens. Beides können unter geeigneten Umständen Folgen einer ernst gemeinten Vergebung sein, aber nicht notwendigerweise.

Vergebung ist etwas im Stillen, etwas in mir drin. Niemand darf Vergebung erwarten, niemand von irgendwem erzwingen. Von Vergebung muss auch niemand sonst erfahren, auch der Täter nicht. Vergebung ist nichts als ein inneres Ruhigwerden, ein akzeptieren der Tat. "Die [Tat] gehört jetzt zu mir", schrieb eine Kommentatorin des genannten Artikels. Vergebung ist aber auch – und hier wird es wieder schwierig – die tägliche Entscheidung, dem Täter nicht mehr in die Fresse schlagen zu wollen.

Aber was sollte mich dazu bringen, diese Entscheidung zu treffen? Auf Rache verzichte ich freiwillig nur dann, wenn mir als Opfer klar wird, dass auch der Täter Opfer ist und im Gegenzug ich jederzeit zum Täter werden kann. Jeder von uns ist Opfer seines bisherigen Lebens, seiner Erfahrungen, seiner Umwelt, seines Erlernten oder eben Nicht-Erlernten. Es gibt keine "Amoralischen Halbmenschen oder faulen Früchte", wie es in einem anderen Kommentar zu jenem Artikel heißt. Es gibt lediglich arme Schweine wie uns alle, Menschen, die vielleicht irgendwann zu irgendwelchen Tätern werden oder wurden – nicht aus reiner Bösartigkeit oder Unmenschentum, sondern aus real existierenden zwingenden Gründen.

Diese Einsicht kann jeder als fatalistisch brandmarken. Dennoch ist sie für mich die einzige Grundlage, auf der ich überhaupt verzeihen kann. Dabei ist es völlig unerheblich, ob ich ein hilflos Abhängiger bin oder ob der Täter seine Tat überhaupt bereut. Und: sie ist völlig unabhängig von irgendwelchen religiösen Aussagen!

Ich freue mich sehr, dass Sandra Schlitter – wie sie selbst erzählte – jenen Mann des Hauses verwies, der ihr gegenüber und blind vor Wut die schlimmsten Strafen für den Mörder ihres Sohnes forderte. Ich bin begeistert, wie sie und ihr Mann ihren Hass durch "Gottes Liebe" ersetzen, von der sich nicht nur Christen erzählen, dass sie ausnahmslos jedem Menschen gilt. Doch kann nicht genug betont werden, dass dieser Weg nur freiwillig und aus innerer Überzeugung heraus eingeschlagen werden darf. Sonst wird er nicht nur nicht zum Segen, sondern schnell zur großen Gefahr.

Ich war nicht mit allem einverstanden, was Mircos Eltern gestern Abend zu sagen hatten. Doch war es sehr erhellend, ihren ganz persönlichen Weg weg vom Abgrund der Verzweiflung zu verfolgen. Dafür und für ihren Mut, sich anschließend den durchaus kritischen Fragen des Publikums zu stellen, gebührt ihnen höchster Respekt.

Mircos Eltern finden Kraft bei Gott
Zeitungsbericht über die Veranstaltung in den Ruhr Nachrichten:
http://www.ruhrnachrichten.de/lokales/witten/Martin-Luther-Kirche-Mircos-Eltern-finden-Kraft-bei-Gott;art939,1968092
Mircos Eltern erzählen in Witten von der schlimmen Tragödie
Zeitungsbericht über die Veranstaltung in der WAZ:
http://www.derwesten.de/staedte/witten/mircos-eltern-erzaehlen-in-witten-von-der-schlimmen-tragoedie-id7830396.html
Der Fall Mirco
Thema bei Spiegel online:
http://www.spiegel.de/thema/fall_mirco/
Mircos Tod hat mich lebensbejahender gemacht
Interview mit Mircos Eltern in der Welt:
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article108919895/Mircos-Tod-hat-mich-lebensbejahender-gemacht.html
Mythos der Vergebung
Artikel vom netzwerkB e.V.:
http://netzwerkb.org/2012/01/24/mythos-der-vergebung
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