Film |
Der Geschmack von Rost und Knochen |
oder: Ziemlich bestes Kino |
Es ist fast unglaublich. Da erscheint Ende 2011 die viel umjubelte Wohlfühl-Kino-Produktion Ziemlich beste Freunde von Olivier Nakache und Eric Toledano, die nach meinem Empfinden ziemlich alles falsch gemacht hat (außer unbestritten witzig und unterhaltsam zu sein). Und wie als Antwort darauf zeigt der Franzose Jacques Audiard ein halbes Jahr später, wie man ziemlich alles richtig machen kann – mir zum Trost und zur Erbauung. Jacques Audiard ist mein Freund!
Ali (Matthias Schoenaerts) kümmert fast nichts. Er ist der Prototyp eines Machos ohne jedes Mitgefühl. Mit seinem kleinen Sohn Sam kann er nicht recht etwas anfangen. Gleichgültig und grob kommt er einem vor, wenn er mit ihm schimpft, ihn bestraft oder wieder einmal versäumt, ihn von der Schule abzuholen, weil ihm ein Gelegenheits-Quickie im Fitnessstudio nun mal wichtiger ist. Er wohnt bei seiner Schwester, die sich um Sam kümmert, so gut sie kann. Zunächst arbeitet er als Türsteher oder Wachmann, später verdient er viel Geld bei illegalen Boxkämpfen. Ali ist kein Sympathieträger, eher ein pragmatisches Ekel, schlichtweg asozial.
Stéphanie (Marion Cotillard; Édith Piaf in La vie en rose; Inception) dagegen bekümmert alles, besonders ihr eigenes Schicksal. Bis vor kurzem war sie noch Killerwal-Trainerin in einem Wasser-Park. Bei einem Arbeitsunfall verlor sie beide Unterschenkel und ertrinkt seitdem in Selbstmitleid. Depressiv und wie gelähmt sitzt sie in ihrer Sozialwohnung und trauert den Zeiten nach, in denen sie noch mit ihren Orcas arbeitete oder sich nachts als Dicoqueen fühlte und benahm. In diesem seelischen Krüppelzustand fällt ihr die Handynummer von Ali in die Hände, den sie vor kurzem flüchtig kennengelernt hat.
Diese zwei Menschen prallen nun aufeinander in diesem Film mit der gesamten Wucht ihrer Unterschiedlichkeit. Sie verbringen viel Zeit miteinander, und wie bei Ziemlich beste Freunde ist man als Zuschauer zunächst geschockt über das fehlende Mitleid des einen gegenüber der körperlichen Behinderung des/der anderen.
"Willst Du schwimmen? Ich geh' jedenfalls schwimmen." Mit diesen Worten lässt Ali die in sich zusammengesunkene Stéphanie in ihrem Rollstuhl hocken und spurtet über den sonnigen Badestrand hinüber zum Meer. Ungläubig starrt sie hinter ihm her, und man könnte gut nachvollziehen, würde sie ihn dafür hassen. Doch genau diese Rücksichtslosigkeit ist es, die sie herausfordert und in ihr den Mut weckt, sich tatsächlich von ihm ins Meer tragen zu lassen, mit ihren nackten Beinstümpfen vorbei am gaffenden Badevolk. Während sie dann weit hinaus schwimmt und das Kinovolk im Saal zittert, weil sie doch sicher gleich absäuft, hält Ali ein Nickerchen am Strand. "Wo ist das Problem?", würde er wohl antworten, spräche man ihn darauf an. Oder vermutlich eher seinen Lieblingsspruch: "Mann, du nervst!"
Ali scheint in zwei Welten zu leben: Seine Rauheit, sein Mangel an Rücksicht und Einfühlungsvermögen – in seinem familiären Umfeld wird dies zu einem wachsenden Problem. Für seine Freundin Stéphanie aber ist es die Rettung – was sie allerdings nicht davon abhält, sich irgendwann gegen genau diese Allüren zur Wehr zu setzen. Aus solchen Diskrepanzen besteht der gesamte Film. Viele Handlungen bleiben undurchsichtig, viele Charaktere unschlüssig und viele Entscheidungen unerklärt. So bleibt beispielsweise völlig offen, warum Stéphanie Ali bei seinen Vorstadt-Boxkämpfen unterstützt, obwohl sie erklärtermaßen nicht davon begeistert ist, sich "für Geld die Fresse polieren zu lassen".
Und genau dafür liebe ich diesen Film: Er beschreibt nicht schwarze und weiße Charaktere. Jede Figur behält bis zum Schluss so viele Ungereimtheiten, so viele Widersprüche und Fragwürdigkeiten, dass es einem fast so vorkommt, als sei die Geschichte das wirkliche Leben. Dieser Film ist ehrlich, er ist realistisch und will nicht einfach nur alles gut werden lassen. Das macht ihn um Längen glaubwürdiger als jedes märchenhafte Heldenepos, das nicht Märchen bleiben will, sondern mit der überdeutlichen Betonung seiner wahren Begebenheit nervt.
Wer also wissen will, warum ich mich bei Ziemlich beste Freunde so zickig anstelle, sollte als gelungenes Gegenbeispiel Der Geschmack von Rost und Knochen anschauen – ziemlich bestes Kino.
Danke, Jacques Audiard, mein Freund!
Originaltitel: | De rouille et d'os |
Regie: | Jacques Audiard |
Drehbuch: | Jacques Audiard, Thomas Bidegain |
Erscheinungsjahr: | 2012 |
Länge: | 120 Minuten |
Altersfreigabe: | FSK 12 |
Witzig, frech, spannend und einigermaßen respektlos. Ziemlich beste Freunde ist eine französische Filmkomödie, die so ziemlich beste Filmkömödie, die ich seit langem gesehen habe - jedenfalls, was den Unterhaltungswert angeht.
Liebe vom österreichischen Regisseur und Drehbuchautor Michael Haneke ist kein Liebesfilm. Er ist eine Zumutung. Schon der Vorspann ist eine Zumutung: es ist totenstill, während die Namen der Beteiligten weiß auf schwarz über die Leinwand flimmern, so still, dass man fürchtet, der Filmvorführer hätte vergessen, die Lautsprecher einzuschalten. Aber auch der Inhalt des Films ist eine Zumutung. Liebe gehört zu der Handvoll Filme, bei denen ich konkret überlegt habe, den Kinosaal zu verlassen.
Angeblich heißt La Grande Bellezza auf deutsch Die große Schönheit. Ich kann kein Italienisch, aber das erscheint selbst mir einleuchtend. Anders als die englischsprachige Version des hier besprochenen Films (The Great Beauty; warum erinnert mich das nur an Pferde?) wurde im Deutschen der Originaltitel beibehalten. Auch das leuchtet mir ein, denn so bleibt die Nähe zur italienischen Hauptstadt Rom bestehen, in der dieser Film nicht nur spielt, sondern sich ergeht.