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Kurzgeschichte

Melanies Rat

(3. Platz beim Meerbuscher Literaturpreis 2014)

„Patsch!“, rief Edmund, als wieder ein fettes Insekt auf der Windschutzscheibe zerplatzte. Der Scheibenwischer schmierte einen besonders unschönen Streifen über das Glas, und aus den Wischwasserdüsen sprudelten nur noch kleine Bläschen. Edmund fluchte. Nach nunmehr dreihundertfünfzig Autobahnkilometern wurde ihm die ganze Sache jetzt eigentlich zu undurchsichtig, doch er war spät dran. Die vom Navi prophezeite Ankunftszeit ließ keinen großen Spielraum mehr. Dieser Druck saß ihm im Nacken und pflanzte sich fort bis zum Gaspedal. „Fahr lieber etwas langsamer, dann kommst du schneller an“, war eigentlich sein Wahlspruch, doch heute musste er ihn verdrängen so gut er konnte.

Dreißig Minuten später nahm er die Ausfahrt und hatte nur noch wenige Kilometer über Land zurückzulegen. Langsam wurde es ernst. Er kontrollierte seinen Kragen und richtete sich die Haare im Rückspiegel. Dann erinnerte er sich an die Minzbonbons, die ihm Melanie noch zugesteckt hatte – als gut gemeinter Rat nach ihrem Abschiedskuss. Er zog die kleine Schachtel hervor und fingerte daran herum. Leider hatte sie einen dieser modernen Patentverschlüsse, den er nicht auf Anhieb durchblickte. So steckte er sie wieder ein und konzentrierte sich auf die kurvenreiche Straße, die ihn mitten durch einen lichten Wald führte. Melanie allerdings hasste es, wenn er schlechten Atem hatte, und seine Kunden würden sicher nicht anders denken als sie. So langte er doch wieder nach der Packung und hielt sie sich direkt vors Gesicht. Mit einem Auge versuchte er die Stelle zu finden, an der er ziehen oder die er drücken musste. Währenddessen sollte das andere Auge die Straße im Blick behalten. Dies war ein guter Plan, und so glückte es ihm immerhin, die Plastikfolie abzuziehen, ohne dass sein Wagen großartig schlingerte. In der folgenden langgezogenen Kurve widmete er sich intensiv der Suche nach einer Sollbruchstelle in der Pappschachtel. Tatsächlich fand er sie. Er drückte zu und riss die Packung auf. Gerade wollte er ein Bonbon heraus fummeln, als ihn ein starkes Ruckeln daran hinderte. Verdammt! Sein zweites Auge hatte seine Aufgabe vernachlässigt. Zwei Räder polterten bereits über den staubigen Seitenstreifen, an den sich nahtlos der Straßengraben anschloss. Edmund riss das Steuer herum. Mit hektischen Lenkbewegungen und quietschenden Reifen versuchte er die Gegenfahrbahn zu vermeiden. Die Bonbonverpackung glitt ihm dabei aus der Hand und landete im Fußraum des Beifahrersitzes. Dort schenkte sie fast allen Minzbonbons die Freiheit. Edmund war schlau genug, diesmal beide Augen auf der Fahrbahn zu belassen und mühte sich ab, auch seinen Wagen wieder ordentlich dort hin zu bekommen. Gerade noch erkannte er den gefährlichen Gegenverkehr, da stach ihm durch lichte Baumstämme hindurch die Sonne in die Augen. Die verschmierte Scheibe wurde augenblicklich blind. Sofort nahm er den Fuß vom Gas. „Halt dich rechts!“, schrie er, doch schon durchfuhr ihn das Hupen des vorbeidonnerden Mähdreschers. Erneut verriss er das Steuer, erneut geriet er auf den Seitenstreifen. Panisch trat er die Bremse und wurde in seinen Sicherheitsgurt gepresst. Der Wagen drehte sich um seine eigene Achse und kam endlich in einer gewaltigen Staubwolke unter den letzten Bäumen des Waldstücks quer und mitten auf der Straße zum Stehen.
Die schweißnassen Hände fest am Steuer stierte Edmund geradeaus. Sein Herz schlug im bis zum Hals und er spürte den Schock in seinen Gliedern. Nur langsam begriff er, was gerade alles nicht passiert war. Tief atmete er ein und aus. Er war heilfroh, das noch zu können.

Etwa zehn Atemzüge später fiel ihm sein Termin wieder ein. Ja, richtig, er hatte es eilig, und er wollte doch noch ein Bonbon lutschen. Sein Blick nach rechts war voller Vorahnung und nicht erfreulich: Etwa dreißig Bonbons lagen überall verstreut auf der Fußmatte, die Packung selbst war nirgends zu entdecken. Edmund brauchte diese Bonbons, denn es war nicht seine Art, gute Ratschläge seiner Frau zu missachten. Hastig schnallte er sich ab, lehnte sich weit nach rechts in den Beifahrer-Fußraum und klaubte einige der begehrten Bonbons auf. Eines steckte er sich sofort in den Mund – und verschluckte es sofort, als der Wagen erbebte. Ein ungeheurer Knall raubte Edmund die Sinne. Sein Auto sackte unter ihm weg und schnellte kurz darauf wieder nach oben. Der Schaltknüppel, über den er sich gelehnt hatte, rammte sich in seinen Brustkorb. Er spürte, wie Rippen brachen, er hörte, wie Blech verbogen wurde und Scheiben barsten. Glassplitter regneten von den Seitenfenstern herab und vermischten sich mit den Bonbons. Dann war es für eine Sekunde still. Der Stille aber folgte lauter Krach. Unter Schmerzen richtete Edmund sich auf und stieß mit dem Kopf unter das Autodach. Durch die zersplitterte Windschutzscheibe erkannte er, wie dicke Äste und Zweige auf die Motorhaube prasselten. Voller Angst sah er sich um. Fast alle Scheiben waren zersprungen und das Dach war entsetzlich tief eingedrückt. Durch die Rückscheibe sah er undeutlich eine menschliche Hand, die vom Dach herab hing. Blut tropfte von ihren Fingern und lief an den Glasfragmenten herunter.
Edmund konnte kein Blut sehen. Augenblicklich wurde ihm übel, und in diesem Moment änderten sich alle Farben. Alles um ihn herum wurde grün. Der Dachhimmel wurde grün, die grauen Sitzbezüge und selbst seine eigenen Hände wurden grün. Irgend etwas Grünes legte sich über sein gesamtes armes Auto. Wieder wurde es still. Totenstill. Edmund krallte sich am Lenkrad fest. Hastig atmend stierte er auf sein Armaturenbrett. Er zitterte am ganzen Körper. Was war da draußen geschehen? Warum lag eine blutende Hand auf seiner Heckscheibe? Lag da überhaupt eine? Sicher hatte er sich geirrt. Ängstlich wandte er den Kopf und sah – die Hand. Einer ihrer Finger zuckte, und jetzt brach die Panik aus ihm heraus. Er schrie laut auf. Hektisch tastete er nach dem Türgriff und schnitt sich dabei an einer Glasscherbe tief in die Handfläche. Nun tropfte auch Blut von seiner eigenen Hand. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, doch es war bereits zu spät für ihn.
Kurz vor seiner Ohnmacht wünschte er sich noch, ein Mal, nur ein einziges Mal, nicht auf seine Frau gehört zu haben.

Edmund erwachte, als vier kräftige Männerhände ihn entschlossen aus dem Wagen hoben. Noch völlig benommen ließ er es geschehen.
„Was ist passiert?“, fragte er lallend.
„Jetzt holen wir sie erst mal da raus.“
Widerwillig ließ er sich auf eine Bahre legen und starrte ins lichte Geäst der Bäume. Er versuchte sich aufzurichten, doch ein Stechen im Brustkorb ließ ihn wieder zurück sacken.
„Bitte bleiben sie liegen.“
Im bereitstehenden Rettungswagen stellte ihm der Notarzt viele Fragen zu seinem Befinden und untersuchte ihn eindringlich. Edmund beteuerte, dass es ihm gut ging, abgesehen von den Schmerzen im Brustkorb. Wieder versuchte er sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht.
„Vermutlich zwei Rippenfrakturen“, erläuterte der Arzt. „Keine schlimme Sache, aber sehr schmerzhaft. Jetzt verbinde ich erst mal ihre Hand.“
Edmund hütete sich davor, ihm dabei zuzusehen. Stattdessen drehte er den Kopf zur Seite und schielte so gut es ging aus dem offenen Rettungswagen heraus. Etwa zwanzig Meter entfernt erkannte er sein Auto, das über und über mit Laub und Astwerk bedeckt war. Eine ganze Schar Sanitäter und Feuerwehrleute stand drumherum, einer von ihnen sogar auf der Motorhaube und gleich zwei auf dem Kofferraum. Allesamt kümmerten sie sich um jemanden auf dem Dach. Neben dem Wagen lag ein großer, unförmiger Haufen einer völlig zerfetzten, grünen Masse.
„Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte er erneut.
„Bitte halten sie still“, ermahnte ihn der Arzt. Edmund wurde langsam ärgerlich.
„Was ist passiert, verdammt nochmal?“

In diesem Moment erschien ein Polizist an der Tür des Rettungswagens. Er hielt Edmunds Portmonee in der Hand und unterdrückte mühsam ein Grinsen, als er von Edmunds Personalausweis ablas.
„Sind sie ... Edmund Detlef Lieblich?“
Edmund hasste seinen zweiten Vornamen fast so sehr wie seinen Nachnamen. Und er hasste es, wenn jemand Fragen stellte, deren Antworten offensichtlich waren. Dieser Hansel hielt Edmunds Ausweis in der Hand, er hatte ihn aus Edmunds Portmonee, und dieses hatte er aus Edmunds Jackentasche. Wer sollte er denn bitteschön sonst sein, wenn nicht Edmund Detlef Lieblich?
„Was ist passiert?“, riss er sich zusammen mit all der ihm verbliebenen Freundlichkeit.
„Das ist doch offensichtlich“, antwortete der Polizist schnippisch und zeigte auf Edmunds Wagen. „Eine Person ist auf dem Dach ihres Kraftfahrzeugs zum Liegen gekommen.“
„Wie bitte?“
„Die Person ist weiblichen Geschlechts, dreiundzwanzig Jahre alt, Studentin und unter dem Namen Helene Schmidt registriert – Schmidt mit d-t. Kennen sie sie?“
Wie sehr Edmund diese Frau beneidete für ihren einfachen, alltäglichen Namen.
„Woher sollte ich sie kennen? Wie kommt sie denn auf mein Dach?“
„Sie befand sich in Ausübung eines Fallschirmsprungs, als eine noch unbekannte Ursache das Öffnen ihres Fallschirms verzögerte. Dieser Umstand hinderte sie an einer sachgemäßen Lenkung des Fluges sowie einer angemessenen Verringerung der Fluggeschwindigkeit und vereitelte somit eine gefahrenfreie Landung auf offenem Gelände. Stattdessen passierte sie fast ungebremst die Kronen der Bäume, unter denen sie ihr Fahrzeug abgestellt hatten – was im Übrigen ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung und folglich eine Ordnungswidrigkeit war – und kam anschließend, wie schon erwähnt, auf dem Dach desselben zum Liegen.“
„Mein Gott! Ist sie tot?“
„Nein, das Opfer ist nicht verstorben, und sein Zustand ist laut einer ersten Begutachtung des verantwortlichen Mediziners stabil. Genauere Informationen liegen mir noch nicht vor, nur so viel scheint gesichert: Die als zufällig zu betrachtende Anwesenheit eines elastischen Fahrzeugdaches am Landeort bei gleichzeitiger Federwirkung des Fahrwerks scheint der Verunfallten das Leben gerettet zu haben. In Bezug auf ihr Fahrzeug dagegen, Herr Liebchen ...“ – er wandte sich leicht dem Wagen zu – „... müssen wir wohl einen Totalschaden verzeichnen.“
„Lieblich“, verbesserte Edmund gereizt.
„Wie geht des dem Patienten?“, ignorierte ihn der Polizist.
„Gut, soweit ich hier diagnostizieren kann“, führte der Notarzt aus, während er diverse Verpackungen und Verbandsreste entsorgte. „Vulnus scissum der Palma manus links, Thoraxtrauma mit Fractura costarum VIII und IX mit kaum wahrnehmbarer Krepitation. Keine Dyspnoe, kein erkennbarer Pneumo- oder Hämatothorax. Genaueres muss im Krankenhaus abgeklärt werden – Röntgen-Thorax zum Ausschluss einer Lungenkontusion, Bronchoskopie, CT, Sonografie, et cetera, et cetera.“
Der Polizist nickte zufrieden und schrieb etwas auf seinen Notizblock. Dann reichte er Edmund Portmonee und Ausweis.
„Sobald sie in der Lage sind, finden sie sich bitte auf der Wache in der Fröbelstraße ein. Dort werden dann alle weiteren Formalitäten geklärt.“
Er wandte sich zum Gehen. Doch dann hielt er inne und betrachtete eine Weile das Treiben um Edmunds Auto. Es schien, als könne er sich nicht entscheiden, ob er fröhlich oder ernst schauen sollte.
„Ach, Herr Liebchen“, ergänzte er noch. „Ihnen sollte klar sein, welch großes Glück sie gehabt haben, dass Frau Schmidt ihren Flug ausgerechnet auf ihrem Wagendach beendet hat. Sie müssen sich jetzt keinerlei Sorgen mehr machen.“
Edmund starrte auf den Schrotthaufen, der ihn zu seinem wichtigen Geschäftstermin hätte bringen sollen.
„Hä?“, würgte er hervor. Seine Hände zuckten. Irgendjemanden wollten sie erdrosseln, und der Beamte war ihr Favorit.
„Na, wegen der vorgenannten Ordnungswidrigkeit. Unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Umstände wird von einem Bußgeldverfahren gegen sie vermutlich abgesehen werden.“
Welch glückliche Fügung, bedauerte sich Edmund. Welch glückliche Fügung, dass er leider zu verletzt war, um fest genug zuzudrücken.


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Dritter Platz beim Meerbuscher Literaturpreis 2014.
Yeah!!! :-)
Herzlichen Dank an das Team um Roger Gerhold, das sich tapfer durch 1.235 Einsendungen kämpfte, um die zwanzig Finalisten auszuwählen (10 x Prosa, 10 x Lyrik). Danke auch für die spannende Leseveranstaltung am 15.02.2014 in Meerbusch. Die zwei Schauspielerinnen Christiane Lemm und Petra Kuhles trugen die zehn Kurzgeschichten und zehn Gedichte neutral und sehr professionell vor, und das Publikum entschied anschließend über die sechs Siegertexte.
Ich freue mich, wenn Du
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Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Wir trafen uns fast jeden Nachmittag, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau. Natürlich war er nicht wirklich blau. Nicht, dass man hätte sehen können, wie er blau gefärbt gewesen wäre, an Händen oder Füßen oder gar im Gesicht. Vielmehr war es mein Bild von ihm, das ihn in dieser Farbe zeigte. Für mich hatte er immer etwas Blaues, in etwa so, wie die Zahl Zwei für mich weiblich und meine EC-Karten-PIN eine bestimmte Melodie ist.

 
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