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Kommentar

Entschleunigung – oder die Grenzen der Freiheit

mit dem Auto unterwegs in den Niederlanden

Tempolimit
von MK-CH1 [Public domain],
via Wikimedia Commons

Mittwoch 16.05.2012: Wie in jedem Jahr um diese Zeit bin ich im Auto unterwegs zu meinem geliebten Himmelfahrts-Kurzurlaub in den Niederlanden. Direkt hinter der Grenze lacht es mir freundlich entgegen, das übergroße Hinweisschild für die Unwissenden: In den Niederlanden gilt Tempo 120 auf den Autobahnen und Tempo 80 auf Landstraßen. Warum eigentlich nicht Tempo 30 innerhalb geschlossener Ortschaften, frage ich mich, denke aber nicht weiter drüber nach. Besser konzentriere ich mich darauf, die 120 nicht zu überschreiten, denn die Niederländer kontrollieren, was sie von uns Autofahrern verlangen. Die Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen sollen happig sein, habe ich gehört, und Toleranzen gibt es auch keine. So liberal unsere westlichen Nachbarn sonst auch sein mögen - die Autofahrer haben sie fest im Griff.

Es ist schon sehr merkwürdig, dass demgegenüber im überregulierten Deutschland der grenzenlosen Tempo-Freiheit so vehement die Stange gehalten wird. Weltweit ist Deutschland das fast einzige Land ohne Tempolimit auf Autobahnen – von Ländern ohne Autobahnen einmal abgesehen. Die "freie Fahrt für freie Bürger" wird hierzulande verteidigt wie in den USA das Recht, eine Waffe zu tragen. In beiden Fällen scheint es um ein gewachsenes Kulturgut zu gehen, dessen Erhalt verbissen verteidigt wird. Und in diesem Kampf scheint es nur eine Regel zu geben: ihn so unsachlich wie möglich zu führen.

Ein Beispiel dafür ist die Internetpräsenz http://www.stoppt-tempo-130.de und die darin verbreiteten 10 guten Gründe gegen ein generelles Tempolimit (die sich sinngemäß auch beim ADAC finden; leider nicht mehr online). Aus Platzgründen möchte ich hier nur auf den ersten der dort genannten Gründe eingehen: "Das Tempo-Limit ist reine Symbolik und (fast) CO2-neutral." Als nähere Erläuterung folgt u.a. der Bezug auf einen Bericht des Umweltbundesamtes (UBA) aus dem Jahre 1999 (leider nicht mehr online). Diesem sei zu entnehmen, dass "sogar bei Tempo 120 auf deutschen Autobahnen der CO2-Ausstoß nur um 0,3 Prozent gesenkt werden" könne. Dieser enttäuschende Wert lässt sich dort tatsächlich in einer Tabelle finden. Dass aber neben CO2 auch noch weitere Abgasgifte behandelt werden, deren Einsparungspotential durch Tempo 120 deutlich größer ist, fällt unter den Tisch. Wer den Bericht aufmerksam liest und nicht nur die Bilder (sprich: Tabellen) anschaut, wird auch die vielen Begleitargumente nicht übersehen, die z.T. noch gewichtiger sind, als die kurzfristige CO2-Einsparung durch begrenzte Geschwindigkeiten (z.B. Folgeeffekte durch langfristiges down-sizing der deutschen Autoflotte). Auch, dass das UBA im Fazit desselben Berichtes gleich zwei mal und in fetter Schrift ein allgemeines Tempolimit ausdrücklich anrät, wird nicht erwähnt. Lieber wird der Schwarze Peter an die Kohlekraftwerke weitergereicht (Thema verfehlt), anstatt dem Verkehrssektor die Chance zu geben, mit einer einfachen, kostenarmen Methode einen – wenn auch kleinen – Beitrag zur Schadstoffsenkung zu leisten.

Dieses Beispiel zeigt, mit welchen Mitteln gekämpft wird. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Tempolimit-Befürworter sich anders verhalten. Auch sie werden in geeigneten Momenten geeignete Zahlen vorlegen, niemals aber die ganze Wahrheit offenlegen – auch, wenn mir dafür gerade ein Beispiel fehlt. Sachlichkeit hat keinen Platz in diesem Kampf der Ideologien. Aber warum ist das so? Wer sind überhaupt die Tempolimit-Gegner, wer die -Befürworter?
Ich glaube, die beiden Lager teilen sich jeweils in drei Hauptgruppen:

Tempolimit-Gegner:

  • Auto-Freaks: Hiermit meine ich Menschen, die starke Autos und insbesondere die dazugehörige Geschwindigkeit lieben. Ein Tempolimit würde ihnen gänzlich die Möglichkeit nehmen, ihre Leidenschaft auszuleben.
  • Vielfahrer: Wer beruflich die Kilometer in Hunderter-Packs abspult, ist naturgemäß nicht an niedrigen Geschwindigkeiten interessiert. Dies gilt für jeden Pendler, der nicht gerade nur durch die Stadt oder über eine der verstopften Ruhrgebiets-Autobahnen fährt.
  • Lobby der Autoindustrie: Diese Gruppe sieht ihre Felle davon schwimmen, sollte Deutschland sein Image als Heimat autobahngetesteter PS-Protze verlieren. Auch, wenn mit deutschen Arbeitsplätzen argumentiert wird, letztlich geht es um das eigene Portemonnaie. Ich wäre sehr irritiert, wenn diese Lobby nicht massiv auf die Politik einwirken würde.

Tempolimit-Befürworter:

  • Auto-Hasser: Ja, so etwas gibt es! Diese Gruppe wird aber wohl viel, viel kleiner sein, als die Auto-Freaks der Gegenseite.
  • Ökos: Wer davon überzeugt ist, dass mehr Geschwindigkeit mehr Umweltschäden verschiedenster Art hervorruft, und wer sich gleichzeitig berufen fühlt, die Umwelt nach Vermögen zu schützen, der wird sich in dieser Gruppe wiederfinden.
  • Schissbuchsen: Nicht jedem, der sich vor einem Verkehrsunfall fürchtet, bricht hinter dem Steuer gleich der Angstschweiß aus. Doch das Risiko fährt immer mit, und das ist vielen Verkehrsteilnehmern bewusst. Wer wird da nicht die gefahrenen Geschwindigkeiten in erträglichen Grenzen halten wollen?

Letztlich scheint der Kampf um die Geschwindigkeit geführt zu werden zwischen Mutigen und Ängstlichen, zwischen Risikobereitschaft und Sicherheitsdenken, zwischen Geld und Umwelt, zwischen Spaßkultur und Nachhaltigkeit. Dies sind nahezu unvereinbare Positionen, und jeder wird andere Schwerpunkte in der Bewertung setzen – ganz nach persönlichen Vorlieben.

Ein Problem im ewigen Hin und Her ist die mangelnde Versorgung der Kontrahenten mit aussagekräftigen Daten. Das vorhandene Material ist entweder alt oder unbrauchbar.
Eine Ausnahme für "unbrauchbar" ist der o.g. Bericht des Umweltbundesamtes – bezogen auf Umweltrelevanz. Offizielle, aussagekräftige Daten zur Unfallproblematik kenne ich keine. Fast alle verfügbaren Studien berücksichtigen nur die Unfall-Toten, nur selten auch alle übrigen Personenschäden. Weiterhin wird meist auf die Einwohnerzahl des jeweiligen Landes normiert, nur selten auf die tatsächlich gefahrenen Kilometer (deren genaue Bestimmung ich als sehr problematisch ansehe). In all diese Daten fließen unzählige Faktoren mit ein: Transit-Land oder "Randlage"; Allgemeiner Stand der Fahrzeugsicherheit; Einkommenssituation der Bevölkerung und der damit verknüpfte Stand der Fahrzeug-Sicherheit; Zustand des Rettungswesens; Qualität der medizinischen Versorgung und die damit verknüpfte Todesrate in den ersten dreißig Tagen; u.v.m. Wie will man anhand dieser Daten die Auswirkungen eines Tempolimits sachlich beurteilen?
Eine Ausnahme für "alt" und "unbrauchbar" sind die Erfahrungen mit der A24 in Brandenburg. Dass dort nach Einführung von Tempo 130 deutlich weniger Unfälle registriert wurden, berichtet zwar DIE WELT, Original-Daten habe ich als Normal-Googler jedoch vergeblich gesucht.

Ohne eindeutige Daten wird der ADAC weiterhin behaupten, "ein Zusammenhang zwischen generellem Tempolimit und dem Sicherheitsniveau auf Autobahnen sei nicht feststellbar" (Quelle leider nicht mehr online). Und Umweltbewegte werden weiterhin frohlocken, mit einem Tempolimit könne man das Klima retten.
Ohne sachdienliche Daten bleibt beiden Seiten gar nichts anderes übrig, als die nicht-sachdienlichen zu bemühen. Also muss der ADAC auch weiterhin gebetsmühlenartig betonen, dass Autobahnen die sichersten Straßen von allen und Kohlekraftwerke die größten CO2-Schleudern sind. Beides mag vollkommen richtig sein, doch beides ist grandios am Thema ("Erhöhung der Sicherheit auf Autobahnen" und "Verminderung der Schadstoff-Emissionen im deutschen Straßenverkehr") vorbei diskutiert.

Tempolimit
von Alfredte (Own work),
via Wikimedia Commons

Und was mache ich nun? Wie bilde ich mir ein Urteil? Mir bleibt nur noch eine Instanz, die mir das Argumentieren ermöglicht, nämlich mein eigener Menschenverstand, der zwar leider nicht wissenschaftlich fundiert, aber sehr gesund ist.

  • Für mich ist es mehr als logisch, dass ich bei Tempo 120 wesentlich bessere Chancen habe, eine brenzlige Situation doch noch zu meistern, als bei 140.
  • Mir ist völlig klar, dass Überholen um so gefährlicher wird, je größer der Geschwindigkeitsunterschied ist.
  • Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass ein Tempolimit eine deutlich schwächer motorisierte Fahrzeugflotte zur Folge hätte, und dass diese deutlich weniger Umweltschäden anrichten würde.
  • Beziffern kann ich Tempolimit-Effekte nicht. Aber ich weiß, dass sie alle – besonders in ihrer Summe – in die richtige Richtung führen: hin zu weniger geopferten Menschenleben und weniger Umweltschäden.
  • Ich habe akzeptiert, dass meine Freiheit spätestens bei den Rechten anderer aufhört und ich nicht jede Art der Freiheit einklagen kann.
  • Mein humanistisches Weltverständnis legt mir mehr als nahe, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Leben unverhältnismäßig höher zu achten als alle Geschäfte der Automobilhersteller, als den Zeitgewinn der Vielfahrer und erst recht als den Fahrspaß der Auto-Begeisterten. Für mich bedeutet der heutige Ist-Zustand noch immer eine gewaltige Schieflage.

Die Zustände in den Niederlanden empfinde ich als äußerst gut gelungenen Kompromiss. 120km/h auf Autobahnen heißt in den meisten Fällen: maximal 20km/h Geschwindigkeitsunterschied zwischen links und rechts. Auch im dichten, zügigen Verkehr ist ein Spurwechsel fast jederzeit möglich und sehr gefahrlos. Tempo 120 nimmt der ganzen Fahrerei den Stress, da man auf der Überholspur eh nicht so viel schneller sein kann. Drängler gibt es nicht – nicht etwa, weil die Holländer so lieb sind, sondern weil es keinen Sinn macht, zu drängeln. Ich staune immer wieder, wie viele Autofahrer sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Und noch etwas fällt auf: Diese ruhige Art des Autoverkehrs nutzt jeden Quadratmeter der Autobahn-Fläche aus. Eine endlos lange Links-Überholer-Schlange, die an einer fast leeren rechten Spur vorbeizieht, habe ich in den Niederlanden noch nicht erlebt.

Sonntag, 20.05.2012: Ende meines Kurzurlaubs. Das heißt, noch nicht ganz. Noch schwimme ich ganz entspannt im dichten Verkehr bei Arnheim, mal rechts mit 110, mal links mit 120. Ich kenne sie genau, die Stelle, an der mein Urlaub schlagartig vorbei sein wird: der Grenzübergang bei Emmerich. Ab hier wird das Autofahren zum Stress: wenn ich zum ersten Mal hinter einem LKW hänge, weil ich wieder verpasst habe, frühzeitig nach links rüber zu ziehen – noch hunderte Meter vom Hindernis entfernt –, wenn die nachfolgenden Autos mit 140 an mir vorüberziehen und ein Ausscheren auf die Überholspur zum riskanten Manöver machen, wenn ich also kilometerlang auf eine Lücke warten muss – dann erfahre ich sie am eigenen Leib, die freie Fahrt für freie Bürger, die nur für risikobereite Wohlhabende existiert.


Stoppt-Tempo-130-Initiative: http://www.stoppt-tempo-130.de
Tempolimit, ADAC 2007: http://www.adac.de/_mmm/pdf/rv_tempolimit_flyer_0807_30472.pdf – leider nicht mehr online
Autobahn-Temporegelung, ADAC 2010: http://www.adac.de/sp/presse/standpunkte/verkehr/temporegelung.aspx?ComponentId=102512&SourcePageId=103250 – leider nicht mehr online
Umweltauswirkungen von Geschwindigkeitsbeschränkungen,
54-seitiger Bericht des Umweltbundesamtes (UBA), Juni 1999:
http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/3136.pdf – leider nicht mehr online
CO2-Emissionsminderung im Verkehr in Deutschland,
Ein Sachstandsbericht des Umweltbundesamtes, 05/2010,
Kapitel 2.5.3 Geschwindigkeitsbegrenzungen, Seite 63:
http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/3773.pdf – leider nicht mehr online
Energiesparende Fahrweise, Wikipdia, Abschnitt Geschwindigkeit: http://de.wikipedia.org/wiki/Energiesparende_Fahrweise#Geschwindigkeit
Die OECD in Zahlen und Fakten 2010, Kapitel Lebensqualität / Verkehrstote, S.250: http://www.oecd-ilibrary.org/economics/die-oecd-in-zahlen-und-fakten-2010_9789264087552-de
Tempolimit 130 auf der A 24 in Brandenburg gilt weiter - Deutlich weniger Unfälle, DIE WELT, 19.02.2004: http://www.welt.de/print-welt/article294526/Tempolimit-130-auf-der-A-24-in-Brandenburg-gilt-weiter-Deutlich-weniger-Unfaelle.html
Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden und ihre Hauptursachen 1995 [Gesundheitsbericht für Deutschland, 1998], Statistisches Bundesamt: http://www.gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gastg&p_aid=&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchstring=1477::Verkehrstote
oder
http://www.gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_aid=98878015&p_uid=gastg&p_sprache=D&p_knoten=FID&p_suchstring=886#fid1477
Straßenverkehrsunfälle [WHO Health Data], Statistisches Bundesamt: http://www.gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gastg&p_aid=&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchstring=9063::Verkehrstote
Volles Rohr, DER SPIEGEL 43/2007: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-53364550.html
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